Uraufführung an den Münchner Kammerspielen:Reine Körpermechanik

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Nackte Frauen kopieren männlich konnotierte Gewaltszenen: Die neue Tanzperformance "Étude for an emergency" der Extremchoreografin Florentina Holzinger ist eine Probe für den Ernstfall - aber für welchen gleich noch mal?

Von Sabine Leucht

Eigentlich sind es nicht, wie angekündigt, zehn, sondern 13 Körper, die Florentina Holzinger in ihrer ersten Stadttheaterinszenierung auf die Bühne bringt. Alle nackt. Einer gehört der Kamerafrau, die Fotos macht, mit deren Erwerb man Apfelbaum-Pate wird. Zwei gehören Stuntfrauen, zwei Opernsängerinnen, fünf Schauspielerinnen und einer der strengen Chorleiterin. Den Körper des Autos, der in "Étude for an emergency. Composition for ten bodies and a car" mitwirkt, gibt es doppelt. Ein schwarzer Opel Corsa steht - um eine Klaviertastatur über dem Kühlergrill ergänzt - in der Kammer 2 der Münchner Kammerspiele, die im kühlen Arbeitslicht Laboratmosphäre ausstrahlt. Sein verbeultes Double hat den Crashtest offenbar schon hinter sich, den die nackten Frauen für Holzinger-Verhältnisse einigermaßen unbeschadet überstehen.

Die Wiener Performerin, Akrobatin und Choreografin mag es krass. Holzinger arbeitet sich an den Konventionen, Zurichtungsmechanismen und Blickregimes der Hoch- und Trashkultur ab und versteht Dekonstruktion körperlich. Vermutlich hätte sie auch den Opel lieber live demolieren lassen, dass das Blech nur so spritzt, doch die "Étude for an emergency" ist auch für sie eine Übung - nämlich für den Stadttheater-Ernstfall. Von 2021 an wird sie zu René Polleschs Berliner Volksbühnen-Team gehören. Ob dort mehr geht als in München, wo der Automotor aus und auch die Performance relativ jugendfrei bleiben muss?

"Ich wusste gar nicht, dass mein nackter Hintern Angst und Schrecken verbreiten kann"

Statt Penetrationen wie in früheren Arbeiten, offener Vagina-Beschau und Fleischerhaken im Nacken, wie in ihrer letzten Produktion "Tanz", gibt es diesmal nur Kunstblut und "explizite Nacktheit". Dass die Kammerspiele vor dieser warnen, kann die unerschrockene Annette Paulmann kaum glauben. Die einzige Vertreterin des Ensembles an diesem Uraufführungsabend erklärt dem Publikum erst mal die Lage. Das tut sie sehr Paulmann-mäßig: "Ganz ehrlich, Leute, wenn ich jetzt Hosen anhätte, würde ich mir reinpullern." Stattdessen outet sie das Blut auf der Bühne als Rote-Beete-Saft, verteilt Tütchen davon "fürs Risotto" und wundert sich laut: "Ich wusste gar nicht, dass mein nackter Hintern Angst und Schrecken verbreiten kann."

Nach diesem launigen Beginn wechselt der Abend seine Mittel: Genug der Worte, lasst uns endlich Action sehen! Holzinger greift in ihre Trickkiste, in der sich Sachen befinden, die sonst niemand im Theaterbetrieb in dieser Mischung zur Verfügung hat. Also wird Paulmann mit Gaffa Tape über dem Mund an einen Stuhl gefesselt, wo ihr eine Mit-Performerin ein Ohr "abschneidet". Daran anschließend choreografiert Holzinger mehrere "Bewegungen" genannte Szenen, in denen ihr gemischter Frauencast minutiös gemeinhin als "männlich" konnotierte Handlungen kopiert: Schießereien zum Beispiel oder einen fingierten Unfall, der in zahllosen Western zum Kapern der Postkutsche führt, die hier ein Auto ist. All diese Aktionen sind vom Bedeutungsbrimborium und den Emotionen bereinigt, die sie normalerweise legitimieren. Sie werden als rein technische Vorgänge hergestellt und so oft wiederholt, dass sich jeder etwaige Bedeutungsrest auswäscht und nur die rein mechanische Bewegung bleibt. Einige wie den Flaschenzug-Zauber, der vier Körper wieder und wieder gegen vier Crashwände prallen lässt, kennt man schon von "Tanz". Widmete sich Holzingers nummernrevueartige Erzähltechnik darin konkret dem Thema Disziplinierung und Zurschaustellung des weiblichen Ballett-Elevinnen-Körpers, geht es in "Études" buchstäblich nur um "Übungen". Als Vorlage dafür dienen Filme wie Quentin Tarantinos "Reservoir Dog" (das Ohr!). Oder "A Clockwork Orange", in dessen Gruppenvergewaltigungsszene Stanley Kubrick mithilfe einer rhythmisierten Trittchoreografie und dem Pathos von Beethovens Neunter gewaltästhetisierungskritisch Gewalt ästhetisierte. In diesem Dilemma steckt auch Holzinger, die besagte Szene re-enacten lässt und durchweg sehr auf den Effekt hin inszeniert, vielleicht auch allzu routiniert.

In der Probe für den Ernstfall muss man die Verhaltensweisen des potenziellen Gegners möglichst genau kennenlernen - was die in den Martial Arts versierte Choreografin weiß. Da hilft es vielleicht, statt wie für Frauen auf der Bühne üblich, in Schönheit zu verenden, schon mal im multiplen Kugel- und Kanonenhagel tausend zuckende Tode gestorben zu sein, ausgelöst vom Taktstock der Chorleiterin Sibylle Fischer, die auch einen fein synchronisierten Schlägerei-Loop an vier Crashmatten dirigiert. Der läuft immer exakt gleich ab und ergibt mit zugespielten Actionfilm-Soundeffekten eine meditative Körpermusik, bei der man fast schon mitwippt. Dabei kann man es belassen und einigermaßen fasziniert sein, zumal der ursprünglich als Stunt-Oper geplante Abend mit hingebungsvoll geschmetterten Arien- und Kunstlied-Fragmenten aufwartet. Ein über der Bühne eingeblendeter Sinnspruch verkauft einem dies als die einzige Antwort auf Gewalt. Doch bei allem Spaß beim Zuschauen - und offenbar auch beim Vorführen - ist noch immer nicht klar, was genau der Ernstfall sein soll, bei dem das alles hilft.

© SZ vom 03.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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