Esperanza Spalding: "Songwrights Apothecary Lab":Mit Nebenwirkungen

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Esperanza Spalding: "Jeder findet andere Strategien für sich, um zu überleben." (Foto: Holly Andres)

Die Sängerin Esperanza Spalding hat ein Jazzalbum aufgenommen, an dem Therapeuten, Ingenieure und Wissenschaftler mitgearbeitet haben. Auf der Suche nach der Heilkraft der Musik.

Von Andrian Kreye

Manchen Menschen sieht man nicht an, dass in ihrem Inneren Orkane toben. Der Bassistin und Sängerin Esperanza Spalding zum Beispiel. Mit ihrem Superstarlächeln kann sie jeden Raum und jedes Bild hundert Lux heller strahlen lassen und an diesem Nachmittag auch die Zoom-Kachel, in der man sieht, wie sie in Oslo in einem Altbauzimmer mit Stuckdecken vor einem Fenster sitzt, hinter dem sich ein schwarz-blauer skandinavischer Herbsthimmel auftut. "Hello!" Schon die Begrüßung klingt wie ein G-Dur-Akkord. Beim Singen ist dieser leicht euphorische Unterton in ihrer Stimme ansteckend. Da ist so ein leichter Druck auf dem Kehlkopf, der sich bei normalen Menschen einstellt, wenn sie frisch verliebt sind, und bei wirklich begnadeten Sängerinnen und Sängern, wenn sie ein Maximum an dem in die Stimme legen, was man früher mal als "Positive Vibrations" bezeichnete.

Lebenslanges Glück hilft dabei, sollte man meinen. Die Abgründe findet man bei Esperanza Spalding jedenfalls erst mal weder in der Musik noch in der Biografie. Mit 15 veröffentlichte sie ihr erstes Jazzalbum. Sie arbeitete mit Janelle Monáe, Bruno Mars und Harry Belafonte. Sie ist eine der Lieblingsjazzmusikerinnen von Barack Obama, der sie ziemlich oft ins Weiße Haus holte und dann nach Oslo mitnahm, damit sie bei seiner Friedensnobelpreisverleihung spielte. Wobei "Jazzmusikerin" schon wieder zu kurz greift. Seit sie vor fünf Jahren ihr Album "Emily's D+Evolution" mit David Bowies Hausproduzenten Tony Visconti aufnahm, hat sie Genregrenzen in ihrer Musik abgeschafft. Man könnte noch erwähnen, dass sie vor vier Jahren eine Professur an der Harvard University bekam und mit dem legendären Saxofonisten Wayne Shorter die Oper "Iphigenia" geschrieben hat, die am zwölften November im Massachusetts Museum of Contemporary Art ihre Uraufführung hatte. Und dass sie im Oktober 37 Jahre alt wurde.

Spalding hat nicht nur eine tamilische Sängerin und einen Knochenflötenspieler vom Stamm der Hopi geholt

Jetzt hat sie gerade das Album "Songwrights Apothecary Lab" herausgebracht, das musikhistorisch ein großer Wurf ist, weil sie Neuland erobert für die Musik. Nicht im Sinne der Avantgarde, das bleibt weitgehend in der wohltemperierten Tonalität. Zunächst mal macht die Musik vor allem gute Laune. "Oh, das ist lieb. Vielen Dank. Wirklich." Immer noch kein Hinweis auf die dunkle Seite von Esperanza Spalding. Dabei geht es um ein wirklich ernstes Thema. Auf diesem neuen Album sucht sie nach der Heilkraft der Musik. Nicht nur weil sie wie alle Jazzmusikerinnen von einer notorischen Neugier getrieben wird, die viele schon nach Afrika, Asien, in die Kirchen, Moscheen und Pagoden getrieben hat, und vor allem in Formen und Klangwelten, die es bis zum jeweiligen Zeitpunkt noch nicht gab. Auch nicht als spirituelle Suche, wie so viele das vor ihr gemacht haben, Alice und John Coltrane zum Beispiel oder Pharoah Sanders.

Orkan im Inneren: Esperanza Spalding am Kontrabass. (Foto: Samuel Prather)

Esperanza Spalding hat dafür aber nicht nur eine tamilische Sängerin, einen Knochenflötenspieler vom Stamm der Hopi und Bands in Oregon und Brooklyn zusammengeholt, sondern auch Akustiker, Psychologen, Neurowissenschaftler, Spezialisten für frühkindliche Entwicklung, Therapeuten. Mit denen wollte sie herausfinden, was für Wirkungen Musik nach neurologischen Gesichtspunkten haben könnte. Das klingt dann zwischen Singer-Songwriter-Stücken, Minimal Music und Jazz erstaunlich eingängig, aber ähnlich wie bei so komplexen Musikerinnen und Musikern wie Joni Mitchell, Steve Reich oder dem von ihr so verehrten Wayne Shorter verbergen sich hinter vermeintlich schlichten Motiven und Kompositionen komplexe Strukturen und Gedanken. Und dann eben noch diese Tiefenschürfung in den Wissenschaften.

Kriegsheimkehrer mit posttraumatischen Stresssyndromen wurden zum Chorsingen geschickt

Die Suche dauert schon gut fünf Jahre. Es begann mit einer Freundin, die mit einem Trauma fertigwerden musste und die ihr Bücher gab: "Entwicklungstrauma heilen" von Laurence Heller zum Beispiel oder "The Body Keeps the Score" von Bessel van der Kolk. Schwere psychotherapeutische Ware. Was Spalding vor allem beeindruckte war ein Kapitel in van der Kolks Buch, das beschrieb, wie eine Gruppe Kriegsheimkehrer mit schweren posttraumatischen Stresssyndromen zum Chorsingen geschickt wurde. Geheilt wurden sie nicht. Es gibt auch psychische Wunden, die bleiben. Aber das Singen half ihnen, wieder mit ihrem Leben fertigzuwerden.

Und ihre Freundin? Über die will sie nicht reden, das sei deren privates, persönliches Trauma. Aber: "Die meisten Menschen haben irgendeine Form von Trauma erlebt, sei es ein Autounfall, sei es, dass sie in einer schizophrenen Nation wie den Vereinigten Staaten aufgewachsen sind, sei es, dass sie braune Haut haben, sei es das Einwandererdasein, Armut, die Alkoholkrankheit eines Elternteils." Sie holt Luft. "Dieser Moment jetzt, in dem wir leben, ist traumatisch." Und ja doch, sie habe schon auch mit einem eigenen, persönlichen Trauma zu kämpfen. "Ich hatte eine ziemlich schwierige Kindheit", sagt sie. "Krasse Sachen. Nicht so krass wie bei vielen Menschen, die ich kenne, aber mir wurde klar, dass meine Methoden, damit fertigzuwerden, mir auf Dauer nicht weiterhelfen."

Verdrängungsmechanismen? Depressionen? Sie schüttelt den Kopf. "Jeder findet andere Strategien für sich, um zu überleben." Kurze Pause. "Manche sind dann zutiefst durchlässig, gesellig und hilfsbereit. Das sieht bei jedem anders aus."

Musik war für sie immer eine Zuflucht. Keine Flucht. Großer Unterschied. "Nach allem, was ich über die Geschichte dessen weiß, was wir Jazz nennen, kann ich sicher sagen, dass er eine heilige, therapeutische, befreiende Methode ist. Ich meine, man kann die Geschichte der Menschen, die die Musik entwickelt haben, nicht von der Musik trennen. Sie entstand in einem akuten gewalttätigen sozialen Kontext. Daraus entwickelte sich diese Musik für die Menschen, die das Ziel dieser systemischen Unterdrückungssysteme waren. Deswegen trägt die Musik eine sehr kraftvolle, erholsame, befreiende, belebende, nährende und heilende Energie in sich. Das tut sie. Wir wissen das. Das ist ganz offensichtlich." Wenn ihr etwas wichtig ist, formuliert sie das gerne mehrmals.

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Es war also nur ein logischer Schritt, sich ausgerechnet in jener Zeit mit der Heilkraft der Musik zu beschäftigen, in der die gesamte Menschheit in ein Trauma gejagt wurde vom Virus und seinen Folgen.

Einen ersten Versuch hatte sie ja schon mit dem Album "12 Little Spells" gemacht, auf dem sie jedem Song ein Körperteil zuordnete. Die wissenschaftliche Arbeit aber begann bei den Vorbereitungen zu "Songwrights Apothecary Lab" in den ersten Covid-Monaten bei unzähligen Zoom-Konferenzen mit den Wissenschaftlerinnen und Therapeutinnen. Die mussten sich erst einmal an den Gedanken gewöhnen, dass eine Musikerin nie weiß, wer ihren Song wann und in welcher Verfassung hört. Und die Songs sollten ja etwas bewirken. "Wenn sich eine Person in einem bestimmten energetischen oder neurologischen Zustand befindet, kann beruhigende Musik unter Umständen etwas in ihr auslösen. Das ist nicht unbedingt hilfreich. Die ersten Gespräche waren wirklich sehr schwierig."

Das tiefe E auf dem Kontrabass löst beispielsweise Schmerzen

Sie arbeiteten mit dem Safe and Sound Protocol des Neurowissenschaftlers Stephen Porges. Der hat herausgefunden, wie bestimmte Frequenzen auf das Nervensystem wirken. Wenn man bestimmte Frequenzen gezielt einsetzt, kann man Traumastörungen lindern, indem man Menschen hilft, Angst- und Alarmzustände zu regulieren, die solche Traumata auslösen. Man kann das aber auch sehr direkt einsetzen. Das tiefe E auf dem Kontrabass löst beispielsweise Schmerzen.

Die ersten Aufnahmen machte Spalding in Wasco County mit seinen endlosen Ebenen im Norden von Oregon und in Portland, wo sie aufgewachsen ist. Später nahmen sie in New York auf. Immer dabei die Musiktherapeutin Marisol Norris und der Toningenieur Sam Curtis, der das Safe and Sound Protocol beherrscht.

Auf der Webseite gibt es Anleitungen, auf welche Stimmungen die Songs wirken sollen, fast wie Beipackzettel zu Medikamenten. Es gibt auch keine Titel. Jedes Stück ist eine "Formwela", eine Formel. Die "Formwela 2" sei "eine sanfte schwingende Umarmung, während die Luft im Raum die latente Unterströmung aufsaugt, die in der Lage ist, die zwischenmenschliche Anspannung, den Kummer, die Trauer und/oder die Aggression zu umhüllen und auszuweiten." Klingt in dieser Beschreibung sehr viel esoterischer als in der Musik. Die " Formwela 10" ist zum Beispiel als Single erschienen, die durchaus auch im Radio laufen könnte. Die soll man hören, "um die Folgen der eigenen romantischen Anspruchshaltung zu betrauern, aufmerksamer zu werden und sie aufzulösen".

Aber die Erkenntnis bleibt, dass Musik Wirkungen entfalten kann

Das Safe and Sound Protocol haben sie dann übrigens doch nicht angewandt, keine Frequenzen so strukturiert, dass sie einen neurologischen Effekt haben. "Wir wollten ursprünglich eine Formwela für jemanden aufnehmen, der aggressiv ist und mit seiner Wut den ganzen Raum um sich herum ausfüllt. Aber dann haben wir überlegt, wir wissen ja gar nicht, wo die Aggression herkommt, ob diese Person nicht vielleicht unsere Empathie braucht, statt dass wir sie für unser eigenes Wohlbefinden beeinflussen." Das war keine musikalische, sondern eine ethische Frage.

Nein, "Songwrights Apothecary Lab" ist immer noch ein Album für ein großes Publikum und keine Therapie für eine Einzelperson. Die Wirkung müsse jeder für sich selbst entdecken. Sie habe eingängige Melodien geschrieben, die könne man vor sich hin summen, sollte man entdecken, dass einem eine dieser Formwelas weiterhelfe. Aber die Erkenntnis bleibt, dass Musik Wirkungen entfalten kann, die weit über die Reaktionen hinausgehen, die man schon kennt. Sie ist da auf einer Spur, die bis ins tiefste Innere der Menschen führen kann.

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