Erster Weltkrieg:Durcheinander im Großen Hauptquartier

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Kaiser Wilhelm II. mit Reichskanzler Bethmann-Hollweg bei einer Automobilfahrt 1910. Bethmann wurde von Zeitgenossen der Kriegstreiberei bezichtigt. (Foto: SZ Photo)

1914/15 schrieb ein Vertrauter des deutschen Reichskanzlers viele Briefe an seine Verlobte - nun sind sie erforscht worden. Bringen sie Neues zur Kriegsschuldfrage?

Rezension von Friedrich Wilhelm Graf

Bei Recherchen für die Max-Weber-Gesamtausgabe machte Guenther Roth 2008 eine Entdeckung: Der in Manhattan lebende Doyen der internationalen Weber-Forschung fand auf dem Dachboden eines Hauses in Baltimore über 1500 Briefe aus dem Nachlass Edgar Jaffés, des Finanzministers der Münchner Räteregierung Eisner, und seiner Ehefrau Else von Richthofen, der letzten Geliebten Webers.

Ein besonders wertvoller Teil dieses Schatzes, der nun im Leo-Baeck-Institut in New York gehütet wird, sind die über einhundert Briefe, die der junge klassische Philologe, Wirtschaftshistoriker und Philosoph Kurt Riezler seit dem 17. August 1914 bis zum Mai 1915 nahezu Tag für Tag aus dem "Großen Hauptquartier" an seine Verlobte Käthe Liebermann, die einzige Tochter des Malers Max Liebermann, schrieb.

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Als engster Vertrauter des Reichskanzlers Bethmann Hollweg hatte Riezler intimen Einblick in die Entscheidungsprozesse innerhalb der Reichsleitung. Seine Tagebücher, die nur zum Teil im Original erhalten sind, standen in den 1960er-Jahren im Mittelpunkt der "Fischer-Kontroverse", die der Hamburger Historiker Fritz Fischer mit der Behauptung provoziert hatte, durch neue Quellenfunde die alleinige politische Verantwortung Deutschlands für den Ersten Weltkrieg belegen zu können.

Ihre Aussagekraft blieb umstritten, waren die Abschriften der nicht mehr original überlieferten Teile doch stark redigiert und wohl auch verfälscht worden.

So gewinnen die von Roth entdeckten und nun gemeinsam mit John C. G. Röhl, einem kritischen Biografen Wilhelms II., edierten Briefe Riezlers an sein "geliebtes Kätzchen" besondere Bedeutung. Sie erlauben einen unverfälschten Einblick in die Frustrationen und diversen Konflikte im deutschen Hauptquartier, die aus dem Scheitern der allzu optimistischen Kriegspläne des Generalstabs resultierten.

Auch zeigen sie das Durcheinander in den im Großen Hauptquartier von Militärs und der zivilen Reichsleitung geführten Debatten um die deutschen Kriegsziele.

Lob für die Täuschung der Öffentlichkeit

Die Briefe sind zudem eine kulturhistorische Quelle hohen Rangs, geht es doch immer wieder um die Lebensführung einer jungen intelligenten und selbstbewussten Frau aus dem jüdischen Großbürgertum Berlins.

Käthe Liebermann war nach dem Scheitern einer ersten Verlobung bereit, für die Ehe mit dem aus München stammenden Riezler zum römisch-katholischen Glauben zu konvertieren. Aber mit Rücksicht auf seine Schwiegereltern verzichtete Riezler auf eine kirchliche Trauung.

Roth und Röhl haben den gut kommentierten Briefen eine kundige, bisweilen zu weit ausgreifende Einführung vorangestellt, in der Röhl ausführlich auf die seit 2014 neu geführten Debatten um die Rolle des Deutschen Reichs in der Julikrise 1914 eingeht.

Seine These, Riezlers Berichte aus dem Großen Hauptquartier belegten eine Alleinschuld Deutschlands am Krieg, ist überzogen und wird den vielschichtigen Argumenten des jungen Diplomaten nicht gerecht.

Spannend ist gerade, dass Bethmann Hollwegs "Liebling" seiner Verlobten unterschiedliche, widersprüchliche Deutungen des Kriegsbeginns und der deutschen Kriegsführung mitteilt. Seine Stimmung schwankt, nicht selten muss er vorschnelle Urteile korrigieren.

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Schrieb er am 19. August "Die Hofgenerale reden mit Vorliebe von unserer Armee als einer Dampfwalze, die Frankreich und Russland niederbügeln wird", so heißt es drei Tage später zur Kritik der Militärs an Bethmann Hollwegs düsterer Stimmung: "Der Reichskanzler ist doch sehr guter Kopf - und die Leute müssen doch wenigstens zugeben, dass die Inszenierung sehr gut war. Im übrigen war der Krieg zwar nicht gewollt, aber doch berechnet und ist im günstigsten Moment ausgebrochen."

Riezler lobt seinen Chef also dafür, die deutsche Öffentlichkeit getäuscht und von einer Bedrohung durch Russland überzeugt zu haben.

Auch ist er vom Recht der deutschen Sache überzeugt. "Ich habe gewiss Anlage, die Großartigkeit dieses Krieges, der Anstrengung, überhaupt der Zeit zu empfinden. Man muss aber noch überdies hart genug sein, um die enorme Macht des Zufalls und die Sinnlosigkeit des Geschehens zu ertragen." Einen großen Sieg der Deutschen sieht er allerdings mit Sorge.

"An die deutsche Kultur glaube ich schon, und Dein Vater hat auch recht, dass der Krieg notwendig und erziehlich. Dazu darf nur nicht zu arg gesiegt werden. Sonst kommt Übermut und Tollheit. Eine deutsche Weltherrschaft allerdings verträgt diese Kultur nicht", heißt es am 22. August.

"Nach dem Krieg wird es furchtbar werden"

Fünf Tage später meldet er nach Berlin: "Nach dem Krieg wird es furchtbar werden. Die blöde Soldateska, die nur zuschlagen kann und der alldeutsche Grössenwahn, der dann einsetzen wird, werden das politische Geschäft ganz unmöglich machen, und eine Kultur für die und von der man leben [kann], wird es auch nicht mehr geben."

Am 10. Oktober zitiert er Nietzsches These, dass die Reichsgründung von 1870/71 nur "Niedergang" gewesen sei. "Eigentlich glaube ich, dass wenn wir siegen, das für Deutschland innerlich der Anfang vom Ende ist. Sein bestes ist ganz unpolitisch. Es verträgt die Weltherrschaft nicht." Nach einem Sieg werde Deutschland "auf das geistige Niveau des Lokalanzeigers herabsinken".

Dem Kaiser geht Riezler bewusst aus dem Weg, und den Großadmiral Tirpitz nennt er nur "Vater der Lüge". Schon Ende September empfiehlt er Käthe, "für die Möglichkeit, dass die Sache schiefgeht, innerlich gewappnet" zu sein. "Ich habe kein Vertrauen mehr in die Führung."

Als er Ende August durch Belgien reist, ist er vom Ausmaß der Zerstörungen tief entsetzt: "Wir werden nach diesem Krieg den Ruf der schlimmsten Barbaren haben und uns nirgends im Ausland mehr sehen lassen können."

Nach Bethmann Hollwegs Rücktritt am 13. Juli 1917 kehrte Riezler ins Auswärtige Amt zurück, wo er für die Kontakte mit den Bolschewiki zuständig war. Am 22. April ging er als Botschaftsrat nach Moskau. In fünf Briefen aus Moskau berichtet er seiner Frau von den dramatischen Konflikten zu Beginn der bolschewistischen Herrschaft.

Guenther Roth, John C. G. Röhl (Hrsg.) : Aus dem Großen Hauptquartier. Kurt Riezlers Briefe an Käthe Liebermann 1914 - 15. Harrassowitz Verlag. Wiesbaden 2016. 299 Seiten, 49 Euro.

© SZ vom 25.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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