Erlebnisreise durch das Kino:Affentheater

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Kinofilme guckt man zu Hause: Der Regisseur von "Sturm" schildert seine absurden Erlebnisse während einer einsamen Werbetour durch die deutsche Kinolandschaft.

Hans-Christian Schmid

Wer hierzulande anspruchsvolle Filme macht, kann sich nach der Premiere keinesfalls entspannt zurücklehnen. Danach heißt es, durchs Land ziehen und das Werk möglichst vielen Zuschauern persönlich vorstellen: die sogenannte Kinotour. Eindrücke einer aktuellen, etwas anderen Deutschlandfahrt - vom Regisseur des packenden Politthrillers "Sturm", in dem Kriegsverbrecher des ehemaligen Jugoslawien vor Gericht in Den Haag auf ihre Opfer treffen.

Kampf für ein Kino, das auch schwierige Stoffe anpackt: Regisseur Hans-Christian Schmid ("Nach Fünf im Urwald", "23", "Requiem") hat seinen neuen Film "Sturm" (das Foto zeigt eine Szene aus dem Film) in vielen Städten vorgestellt. Hier schildet er Eindrücke dieser Reise - vom greisen Plakatmaler bis zur digitalen Hightech-Projektion. (Foto: Foto: Filmverleih)

Auf dem Marktplatz steht ein Filmteam. "Das sind die von Rote Rosen", sagt Ruth, die mich vom Bahnhof abholt, "tausend Folgen, die sind hier schon seit Jahren." Lüneburg ist die erste Station unserer Kinotour - und seit hier die beliebte Vorabendserie gedreht wird, hat sich in der beschaulichen Stadt einiges verändert. Touristen pilgern zu den Drehorten, Hotels bieten Übernachtungen mit Studio-Besichtigung, für die Schauspieler muss sich das ein wenig anfühlen wie die Truman-Show.

Ruth, Elke und Ulla betreiben das Arthouse-Kino Scala, das vor zwei Jahren als bestes deutsches Programmkino ausgezeichnet wurde. "Wenn man anspruchsvolles Kino machen will, ist das kein Selbstläufer", meint Ruth. Der Verdrängungskampf vor Ort sei hart. Das Cinestar, ein Multiplex mit sieben Sälen, mache massiv Werbung, jeden Tag Anzeigen in der Tagespresse. "Eine Hängepartie ist das hier. Wir versuchen, in den guten Monaten etwas für die schlechten zurückzulegen, aber dieser August war der schwächste seit langem."

Vor allem die Studenten gingen nicht mehr so ins Kino, das sei zu teuer, die schauen lieber DVD. Die Stadt spendiert den Erstsemestern eine Tasche mit Werbegeschenken. Vom Scala ist ein Lutscher dabei, auf dem ein Gutschein mit der Aufschrift "Kino mit Geschmack!" klebt. "Man muss sich ständig was einfallen lassen", sagt Ruth, und was sie damit meint, wird klar, wenn man ins Programmheft des Kinos sieht.

Pastor Kranzusch stellt nächste Woche "Sturm" in der Reihe "Lichtblicke - Kirche und Kino im Dialog" vor; "Whisky mit Wodka" gibt es bald im "KaffeeKino für Seniorinnen und Senioren"; und weil die Kirche St. Nicolai eine neue Glocke bekommt, zeigt das Scala Tarkowskijs "Andrej Rubljov", in dem ein Glockenguss im mittelalterlichen Russland zu sehen ist.

Während das Cinestar den Lüneburgern mit der digitalen 3D-Projektion von "Oben" nichts weniger als den "Start in eine neue Kino-Ära" verspricht, bleiben die Filme im Scala erstmal analog und zweidimensional. Die Umrüstung auf digitale Projektion würde mehr als 300 000 Euro kosten, dafür fehlt das Geld.

"Berlinle"

Über dem Eingang der Schauburg in Karlsruhe hängt handgemalt der Schriftzug "Sturm". Rechts davon die Namen unserer Schauspieler Kerry Fox und Anamaria Marinca, die ein wenig so aussehen, als würden sie zu einem Western aus den Sechzigern gehören. Links der Berlinale-Bär. Im Schriftzug fehlt ein "a", aus "Berlinale" wird "Berlinle", das klingt nett schwäbisch. "Unser Plakatmaler ist schon 82", sagt der Theaterleiter Herbert Born, den wollte er nicht extra noch mal auf die Leiter schicken.

Die Schauburg ist ein Haus mit Tradition. Ursprünglich als Varieté in Betrieb genommen, fanden hier schon Anfang des vorigen Jahrhunderts Filmvorführungen statt. Born leitet das Kino seit fünf Jahren, veranstaltet "Open-Air-Nächte" und bietet Opern-Übertragungen live aus der Met in New York an. Das bürgerliche Publikum in Karlsruhe nimmt das gut an, ab Ende September steht auch die Mailänder Scala auf dem Programm.

Als einer der Ersten in Deutschland hat Born digitale Technik eingeführt. Eine 35-mm-Kopie müsse er früher oder später an den Verleih zurückschicken, einen Film auf Festplatte zieht er auf seinen Server und kann ihn dann mit entsprechender Freischaltung so oft spielen, wie er möchte. "Es gibt ja viele, die merken erst in der fünften, sechsten Woche, dass ein interessanter Film läuft", sagt Born. Man könne auch nicht ewig eine abgeschrabbelte Kopie zeigen. "Mittlerweile konkurrieren wir im Heimbereich gegen Full HD, LCD-Plasma-Schirme und BluRay".

Zur besten Zeit der Schauburg in den Fünfzigern ließ sich der große Saal mit tausend Plätzen bei Premieren mehrmals hintereinander füllen. In den Siebzigern wurde das Kino geteilt, heute fasst der größte Saal gerade mal 350 Zuschauer. Als vor zehn Jahren der Filmpalast gebaut wurde, ein Multiplex mit zehn Sälen, beteiligte sich der damalige Betreiber der Schauburg zur Hälfte daran. Heute fließt ein Teil der Erlöse aus dem Filmpalast in eine Stiftung, die sich den Erhalt der Schauburg als Arthouse-Kino zur Aufgabe gemacht hat.

In Nürnberg im Cinecitta, einem Megaplex-Kino mit 18 Sälen, Läden, Restaurants und Bars startet heute "Wickie". Vor dem Eingang des Kinos steht ein haushohes Wikingerschiff, ein paar Familien warten schon auf die erste Vorführung. Im "American Diner" gibt es "Snorres Salamifladen", "Ulmes Toast" und "Wickies Fischburger".

Okidoki, bitte lächeln

Die Filmkritikerin der Nürnberger Nachrichten hat ihren Fotografen mitgebracht. Er soll ein Foto von mir "mit Nürnberg im Hintergrund" machen, danach noch eine Familie mit Wikingerhelmen. Okidoki, sagt er und ermahnt gleich mal einen Familienvater, die Zigarette für das spätere Foto aus dem Mund zu nehmen. Die Suche nach dem "Nürnberger Hintergrund" gestaltet sich schwierig, Bäume verdecken die Silhouette der Stadt. Schließlich landen wir vor dem Wikingerschiff. Ich soll nicht so ernst schauen, ein bisschen lächeln, okidoki.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum Deutschland Wickie ist.

Vor ein paar Jahren hatten sie schon mal so ein Riesenschiff hier, sagt eine Mitarbeiterin, die uns zur Vorführung von "Sturm" in Saal 17 begleitet. Sie weiß nicht mehr genau, welcher Film das war, aber sie erinnert sich, dass es dann jemand von der Filmförderanstalt abholen ließ, weil er es in seinen Garten stellen wollte. Aus einem blauen Plastikköfferchen, eingebettet in Schaumstoff, holt sie eine Festplatte, nicht größer als ein Taschenbuch. Eine digitale Kopie unseres Films. Die großen Blechbüchsen, in denen 35-mm-Kopien transportiert werden, wirken daneben wie Relikte aus einer vergangenen Zeit.

Szene aus "Sturm" mit Anamaria Marinca. (Foto: Foto: Filmverleih)

Die Projektion ist makellos: kein Flimmern, keine Kratzer, kein Aktwechsel. Als wir den Vorführer gegen Ende des Films fragen, wie lang noch Zeit ist bis zum Gespräch mit dem Publikum, wirft er, ein lang trainierter Reflex, einen kurzen Blick auf die Seite des Projektors - da, wo früher die Filmspulen waren. Dann besinnt er sich auf das digitale Display des Beamers: noch vier Minuten und zwanzig Sekunden.

Wir sind Wickie

Der Saal ist knapp halb voll. Ein Zuschauer ist überzeugt, dass unsere Hauptfigur an Carla Del Ponte angelehnt ist, die ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, der es gelang, sich durch resolutes Auftreten einen Namen in der Öffentlichkeit zu machen. Jemand will wissen, wie es dem Kriegsverbrecher Duric nach seiner Freilassung ergangen sei. Er wirkt fast enttäuscht, als ich ihm sage, dass die Geschichte, die wir erzählen, fiktiv ist. Dann hält eine Zuschauerin eine Lobrede auf Titos Jugoslawien. Sie hat die Zeit dort miterlebt, Tränen steigen ihr in die Augen, sie hört nicht auf zu erzählen.

Fünf Tage Kinotour bedeuten auch fünf Tage unterwegs mit der Bahn. Wir laufen zum Bahnhof, der ICE steht noch am Gleis, aber die Türen sind schon zu. Arne, mein Begleiter vom Verleih, telefoniert mit dem Kino in München. Sie fangen etwas später an.

Am nächsten Morgen kaufe ich einen Stapel Tageszeitungen für die Bahnfahrt nach Dresden. Der Zug hat Verspätung, Gleisbauarbeiten, es sei nicht klar, ob die Anschlusszüge erreicht werden. "I will informate ju as sun as possible", verspricht der Zugführer. In der Nürnberger Zeitung hat es die Wikinger-Familie auf die Titelseite geschafft. Alle mit Papphelmen auf dem Kopf, der Vater ohne Zigarette. "Wir sind Wickie!"

Dresden-Blasewitz, zwanzig Minuten von der Innenstadt entfernt. Hier hat Theaterleiter Sven Weser das Programmkino Ost von einem auf fünf Säle erweitert. Klare Linien, ein großes Foyer, so stellt man sich ein modernes Kino vor. Der Umbau hat mehr als zwei Millionen Euro gekostet. Woher nimmt er den Glauben, dass die Investition sich lohnt? "Auch wenn es mit den reinen Arthouse-Filmen im letzten halben Jahr schwer war, ist das kollektive Kulturerlebnis im Kino entscheidend", sagt Weser - die Leute wollten gemeinsam Filme sehen. Er setze auf Komfort, Ausstattung und Ambiente. "Viele Kinos haben da Nachholbedarf."

Herzlichen Glückwunsch!

Die Mitarbeiter des Verleihs sind nach Dresden gekommen. Sabine, die Disponentin, telefoniert die fünfzig Kinos durch, in denen "Sturm" heute angelaufen ist. Delphi 78, Abaton 34, Arri 37. Auf diesen Abend haben alle in den letzten Wochen hingearbeitet - entsprechend groß ist die Enttäuschung über den schwachen Start. Aus Stuttgart gibt es keine Zahlen, Wasserrohrbuch. Eine gute Nachricht aus Mainz: Der Kinobetreiber ist Vater geworden. Trotzdem betretenes Schweigen in der Runde. Sabine nimmt ihren Notizblock und telefoniert am Nebentisch weiter.

Lesen Sie weiter auf Seite 3, wie die Affen das Kino entdecken.

Ein klassischer Arthouse-Film findet in Deutschland heute kaum mehr als 80 000 Zuschauer. Das ist in etwa die Zielgruppe, die sich jeden neuen Film von Christian Petzold ansieht und sich darauf freut wie auf ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten. "Alle Anderen" von Maren Ade zählt mit 180 000 Zuschauern schon als kleines Kinowunder, für Caroline Links "Im Winter ein Jahr" galten 220 000 Zuschauer als enttäuschend. Nur selten geht es darüber hinaus. Bei Andreas Dresen etwa, der es schafft, mit Augenzwinkern vom Ernst des Lebens zu erzählen. Oder bei Fatih Akin, der mit seiner ungestümen erzählerischen Kraft das Publikum umarmt.

Viele Berlinale- und Cannes-Gewinner, vorausgesetzt sie finden überhaupt einen Verleih, laufen in deutschen Kinos unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Filme wie "Red Road" von Andrea Arnold, "Grbavica" von Jasmila Zbanic, "Hunger" von Steve McQueen, "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" von Cristian Mungiu. Braucht überhaupt noch irgendjemand Arthouse-Kinos, in einer Zeit, in der Filme nicht mehr an Abspielstätten gebunden sind? In der sie zunehmend an jedem Ort und in jedem Format zur Verfügung stehen?

Wir wählen die Kanzlerin - Inhalte interessieren nicht

Der Zug windet sich durch Halle. Ich schaue aus dem Fenster, viel Brachland, ein paar Neubauten und überall Wahlplakate: Wir wählen die Kanzlerin. So einfach ist das. Inhalte interessieren nicht, auch nicht im Kino. In "Sturm" geht es um die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen, um das Spannungsfeld zwischen internationaler Justiz und Politik. Die Leute hier haben andere Probleme, denke ich mir, wenn ich mich im Abteil so umsehe. Aber auch "Antichrist", "Whisky mit Wodka" und "Taking Woodstock" sind in diesen Tagen weit unter den Erwartungen geblieben.

Mir fällt "Das Schweigen" ein, von Ingmar Bergman, wahrscheinlich wegen der Szene im Zug zu Beginn. Ein sperriger, kalter Film, fast ohne Handlung, in dem es um Entfremdung und Existenznot geht. Als er Mitte der Sechziger in die deutschen Kinos kam, wollten ihn elf Millionen Menschen sehen.

Zur 18-Uhr-Vorstellung im Lux am Zoo sind sieben Zuschauer gekommen. Ich brauche kein Mikrofon für das Publikumsgespräch. Wolfgang Burkart, ein ehemaliger Sozialarbeiter aus dem Westen, und Torsten Raab, ein ehemaliger Lokführer aus dem Osten, machen seit fünfzehn Jahren Kino in Halle. Bis vor kurzem hatten sie drei Häuser, eins davon mussten sie aufgeben, es war nicht mehr rentabel. Geblieben sind das Lux und das Puschkino, beide mit ambitioniertem Programm. Die Konkurrenz ist groß, zwei Multiplexe, mehrere Einzelhäuser, obwohl Halle seit der Wende etwa 80 000 Einwohner verloren hat.

Während "Sturm" läuft, sitzen wir auf der Terrasse des Lux. Ein milder Spätsommerabend, viel zu schön, um ins Kino zu gehen. Wolfgang erzählt, wie schwer es hier manchmal sei, mit der Stadt. Anträge auf einen Standort für ein Open-Air-Kino wurden aus Lärmschutzgründen abgelehnt. Als sie einmal eine Genehmigung bekamen, galt die nur bis 20 Uhr.

Als das Lux einmal für sein Programm ausgezeichnet wurde, stellte Wolfgang, kurz bevor er zur Preisverleihung nach Hamburg fuhr, noch ein paar Unterlagen für die Presse zusammen. Da der Kopierer im Kino kaputt war, bat er eine Mitarbeiterin der Pressestelle der Stadt, die Kopien für ihn zu machen. "Das geht nicht", hieß es - da würden ja Kopierkosten anfallen.

Die Weißbüffeläffchen zeigen großes Interesse

Er würde am liebsten noch mehr anspruchsvolle Filme zeigen, sagt Wolfgang, "aber harmonische Filme kommen hier am besten an." Filme wie "Die fabelhafte Welt der Amélie". Der sei hier so gut gelaufen, dass auch die Filme danach noch davon profitierten. "Einfach weil Leute, die bisher noch nie hier waren, gesehen haben, dass es dieses schöne Kino gibt."

Das Lux liegt direkt am Hallenser Bergzoo. Aus dem Dickicht, gleich neben der Terrasse, dringen exotische Geräusche. Vor ein paar Monaten kletterten ein paar Weißbüffeläffchen über den niedrigen Zaun des Geheges. Eines davon kam bis in die Cafeteria und biss den Vorführer in den Finger. Er habe die Stadt informiert, sagt Wolfgang, aber erst, als die ersten Äffchen in der Straßenbahn gesichtet wurden, kam jemand und hat den Zaun höher gemacht.

Wolfgang fährt uns noch nach Leipzig in die Passage, die letzte Station der Kinotour. Anita Vulesica ist gekommen, die hier Theater spielt und die deutsche Synchronstimme von Anamaria Marinca gesprochen hat. Sie ist halb in Kroatien, halb in Deutschland aufgewachsen. Wie nah ihr die Geschichte ist, die der Film erzählt, kann man in der Szene spüren, in der die Zeugin Mira über den Krieg spricht und es jedes Mal ganz still wird im Kino.

Zwei Mal im Jahr besucht Anita ihre Familie in der Kleinstadt Posedarije, in der Nähe von Zadar. In den Schaufenstern der Läden dort hängen Poster von Ante Gotovina, der vielen als Kriegsheld gilt und dem sie in Den Haag gerade den Prozess machen. Ich frage Anita, was die Leute in Kroatien vom Haager Tribunal halten. Sie zuckt mit den Schultern und erzählt vom Eselrennen in Posedarije, das seit Jahren immer derselbe Esel gewinnt. Er gehört ihrem Schwager und hört auf den Namen Carla Del Ponte.

© SZ vom 24.9.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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