Erfolgreiche Filme II:Herrliche, idiotische Unschuld

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Jenseits der Kassenerfolge: Die SZ-Filmkritiker erzählen von ihren magischen Momenten des Kinojahres. Momenten, die auf der Leinwand aufblitzen und in der Erinnerung dann erst wirklich geschaffen werden.

Die erste Hälfte von 2010 gehörte "Avatar", der kurz vor Weihnachten des Vorjahrs gestartet war. Seiner Magie, seinem transluzenten Dschungel, seinen naiven, springlebendigen, blauhäutigen Wesen, seinem kindlichen Glauben an die neue Technik 3D - die der Rest der Branche inzwischen hektisch zum Kinoheilsbringer verklärt. Einen sagenhaften Erfolg hatte "Avatar" in den Kinos, dann auf dem DVD-Markt einen starken Zweitstart mit einer erweiterten Fassung, in der selbst ausgewiesene Fans Zusätzliches nicht sicher lokalisieren konnten, und natürlich sind ein zweiter und ein dritter Teil von James Cameron persönlich zugesagt.

Alte Männer zeigten noch einmal, was sie draufhaben: Jeff Bridges wird in wenigen Wochen die Berlinale eröffnen auf den Spuren von John Wayne, in "True Grit". (Foto: AP)

Danach war der Sommer mehr oder weniger blockbusterfrei, nur "Iron Man 2" blieb angenehm in Erinnerung, dank Robert Downey Jr., der sich als Paarspieler des Jahres erwies - zu Beginn neben Jude Law in "Sherlock Holmes", dem Ende zu neben Zach Galifianakis in dem Vaterschafts-Roadmovie "Stichtag". Große Kinoereignisse waren "Im Angesicht des Verbrechens" von Dominik Graf und "Carlos" von Olivier Assayas - zwei Fernsehserien, die durchaus, auf Festivals präsentiert, auf der Leinwand bestehen konnten.

Alte Männer zeigten noch einmal, was sie draufhaben, Jeff Bridges sang sich durch "Crazy Heart" - er wird in wenigen Wochen die Berlinale eröffnen auf den Spuren von John Wayne, in "True Grit" -, George Romero war sehr lebendig mit seinem neuesten Zombiefilm "Survival of the Dead", Denzel Washington legte eine Vollbremsung hin in "Unstoppable". Die wunderlichsten Geschichten kamen aus Kleinstädten und Stadtvierteln aus aller Welt: Ben Afflecks "The Town" aus Boston, aus Korea "Mother" von Bong Joon Ho, aus Japan "Still Walking" von Hirokazu Kore-eda, aus England "Fish Tank" von Andrea Arnold. Die SZ-Filmautoren halten wieder die "Magic Moments" des Jahres fest, jene Momente des Kinos, die auf der Leinwand aufblitzen und in der Erinnerung dann erst wirklich geschaffen werden - Kristallisation hat Stendhal dieses Verfahren genannt in seinem Buch über die Liebe.

Erfolgreiche Filme I
:Du schon wieder

Und jährlich grüßt das Murmeltier: Hollywood wärmte 2010 Reste auf. Die Kinogänger fraßen, was vorgesetzt wurde - nur eine Produktion bestach durch Originalität. Die erfolgreichsten Filme des Jahres.

Von Jassien Kelm

Von Rainer Gansera

Elle Fanning als Cleo in Sofia Coppolas "Somewhere". (Foto: AP)

Ein stummer Blick: durchdringend wie das Jüngste Gericht, herzzerreißend wie der Aufschrei enttäuschter Liebe. Die elfjährige Cleo (Elle Fanning) wirft ihn ihrem Vater zu, beim Frühstück in einem Mailänder Luxushotel. Ein Augen-Blick, der mitten ins Herz trifft. Stärkste Verdichtung der Zauberbildergalerie, die Sofia Coppola in "Somewhere" entfaltet. Der Vater, Johnny Marco (Stephen Dorff), ein junger Hollywood-Star, taumelt durchs Leben. Wie ein Antonioni-Held jagt er coolen Ekstasen hinterher und umkreist das große Nichts. Als seine Ex-Ehefrau verreist, muss er sich um Tochter Cleo kümmern, er nimmt sie zur Promo-Tour nach Mailand mit und es entspinnt sich ein hübsches Vater-Tochter-Miteinander. Eines Nachts aber lässt sich Johnny wieder einmal von einer dieser Groupie-Blondinen abschleppen. Cleo kriegt das mit, ihr Blick am Frühstückstisch offenbart es: Eifersucht, Enttäuschung, Zorn. Johnny erstarrt, fühlt sich wie von Röntgenstrahlen durchschaut und versteht: Du musst dein Leben ändern.

Lust: A Single Man von Tom Ford

Frust: Honig von Semih Kaplanoglu

Von Susan Vahabzadeh

Es gibt in Andrea Arnolds Film "Fish Tank" eine Szene, die sich wandelt im Nachhinein, wenn die Dinge längst entglitten sind in der dysfunktionalen Patchworkfamilie, in der Mia (Katie Jarvis) aufwächst. Mia ist ein störrischer Teenager, für ihre Mutter ist aggressives Gebrüll die einzige Kommunikationsform, was ihre Kinder angeht. Der neue Liebhaber der Mutter, Michael Fassbender spielt ihn, ist eingezogen, und er bringt einen neuen Tonfall in die Familie. Während die Mutter im Wohnzimmer mit Freunden feiert, geht die fünfzehnjährige Mia in Mutters Schlafzimmer, probiert Make-up aus, schläft dort betrunken ein. Mutters Neuer trägt sie in ihr Bett, Mia stellt sich schlafend, genießt die ungewohnte Fürsorge. Beim ersten Anschauen eine rührende, beim zweiten eine beklemmende Szene, aber es sind, wenn man dann schon weiß, dass die zärtliche Geste nicht unschuldig ist, alle Anzeichen da der Verführung. Viel mehr subtiles Können kann man nicht verlangen.

Lust: Die Fremde von Feo Aladag

Frust: Jud Süß - Film ohne Gewissen von Oskar Roehler

Von Anke Sterneborg

Mit elegantem Schwung platziert der Vielflieger Ryan Bingham seinen Rollkoffer vor dem Laufband, mit flinkem Griff öffnet er den Reißverschluss, lüpft den Laptop raus, während er sich zugleich schon des Jacketts entledigt, die Schuhe von den Füßen streift, den Gürtel aus den Schlaufen zieht: eine Prozedur, die zu den kläglichsten und enervierendsten der modernen Zivilisation gehört, verwandelt George Clooney mit nonchalantem Cary-Grant-Appeal in eine kunstvolle Choreographie, in einen schwerelos gleitenden Tanz. In einer Situation, die voller potentieller Komplikationen steckt, versteht er es, nicht den geringsten Widerstand zu bieten. So jongliert Jason Reitmans ebenso leichtfüßige wie tiefgründige Komödie "Up in the Air" beschwingt mit den Werten, die quälende Pflicht der Sicherheitskontrolle wird in eine Kür verwandelt, die menschenverachtende Prozedur der seriellen Kündigung zur Kunstform erhoben, die Anonymität moderner Hotels zur Luxuszone erklärt.

Lust: The Kids Are All Right von Lisa Cholodenko

Frust: Miral von Julian Schnabel

Von Tobias Kniebe

Wahrheit oder Fälschung - das war die große Frage bei "Exit Through The Gift Shop", Cinéma vérité von und mit Banksy, dem britischen Street-Art-Künstler, dessen Identität noch immer im Dunkeln liegt. Eine Szene gibt es allerdings in diesem Film, die muss echt sein: Da weiht Banksy, verhüllt in seinen üblichen Kapuzenpulli, seinen verrückten französischen Freund Thierry Guetta in ein echtes Geheimnis ein - und Guetta, der Videomaniac, darf mitfilmen. Auf Banksys Speicher lagern in Pappkartons englische Zehn-Pfund-Noten, die statt des Bildes der Queen das Konterfei von Lady Di zeigen. Sollte eine Kunstaktion werden, erklärt Banksy - aber die Leute haben beim ersten Test sofort angefangen, mit dem falschen Geld ihr Bier zu bezahlen. "Ich habe eine Million Pfund gefälscht", sagt Banksy. "Dafür kann es zehn Jahre Knast geben." Doch der irre Franzose, der die ganze aufregende Story nicht verstanden hat, fragt nur: "You found dis?" Herrliche, idiotische Unschuld - die kann nicht gefälscht sein.

Lust: Somewhere von Sofia Coppola

Frust: Wall Street II von Oliver Stone

Von Martina Knoben

Minutenlang ist in Apichatpong Weerasethakuls "Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben" die Silhouette eines Büffels in der Morgendämmerung zu sehen - bis man meint, die Seele dieses Tieres zu erkennen. Eine atemberaubende Szene: Der Büffel steht angebunden an einem Holzpfahl, sein dampfendes Schnauben zeichnet sich vor dem dunklen Hintergrund ab, dann reißt er sich los und verschwindet im Dschungel. Ein weißer Schmetterling umflattert seine Nase - damit ist das Kino ganz bei sich, da, wo es vor mehr als hundert Jahren angefangen hatte, ist reines Schauen und geht auf im Augenblick. Die allerflüchtigste Bewegung und die Unendlichkeit des Dschungels werden eins, das ewige, undurchdringliche Grün löst alle Grenzen auf. Die Durchlässigkeit der Welten ist bei Weerasethakul von einer comichaften Evidenz, wie sie nur das Kino schafft: Sehen heißt glauben.

Lust: Moon von Duncan Jones

Frust: I am Love von Luca Guadagnino

Von Fritz Göttler

Auswege finden, neu anfangen, davonfahren. Ich will kein Enigma mehr sein, sagt Pippa Lee im gleichnamigen Film von Rebecca Miller, der im Original "The Private Lives of Pippa Lee" heißt. Pippa, gespielt von der wunderbaren Robin Wright, hat einen alten Mann geheiratet, aber das Glück nicht gefunden. Nachts dringt einer in die Küche ein und vergeht sich am Schokokuchen im Kühlschrank. Eine Überwachungskamera wird installiert - und es war Pippa selbst, schlafwandelnd, hemmungslos. Aber bloß kein Schamgefühl, sie genießt den Moment der Erkenntnis. Und das Kino freut sich, den Somnambulismus der Welt zu dokumentieren.

Lust: Der Vater meiner Kinder von Mia Hansen-Løve

Frust: Lebanon von Samuel Maoz

© SZ vom 30.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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