Einkaufen in der Stadt:Alles muss raus

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Einkaufszentren sind als zeichenhafte Orte des modernen städtischen Lebens auch in Literatur, Kino, Kunst und Popkultur eingegangen. Jetzt sind sie leer - wie dieses hier in Melbourne - und sterben vielfach dahin. (Foto: Speed Media/AP)

In den USA stirbt die Shopping-Mall, in Europa ist es die Innenstadt. Das Elend bietet aber eine Chance: Wir können die Stadt als Lebensraum neu erfinden.

Von Gerhard Matzig

"Drei Männer im Schnee". Das ist eine Komödie aus den Fünfzigerjahren. Sie stammt aus jener Zeit, da das Leben lange vor der pandemischen Ära verschlossener Rollgitter, geschlossener Grenzen und entschlossener Kontaktverbote noch ein einziges Versprechen auf die Zukunft als Sehnsuchtsort war. Befeuert von der Lust auf Konsum und angetrieben vom Ausblick auf eine Wunderwelt der Waren und der Reisen. Zuerst wurden die Läden, Geschäfte und bald auch die Kaufhäuser bis hin zu den Shopping-Malls nach amerikanischem Vorbild auf- oder auch neugebaut in den Jahren nach dem Krieg.

Das Kaufen und Verkaufen hat die Städte groß werden lassen - wie eh und je. Die Stadt war immer schon ein Konstrukt aus Handel und Wandel. Städte sind fast immer dort entstanden, wo sich die Wege zum Kreuzungspunkt überlagerten. Die Stadt, eine der großen Errungenschaften der Zivilisation, ist immer auch das Ergebnis von Waren- und Personenverkehr. Als Stein, Stahl, Beton und Glas gewordenes Abbild statischer Immobilität ist die Stadt auf faszinierend paradoxe Weise zugleich ein Abdruck enormer Mobilitätsdynamiken.

Bis heute. Bis zu diesem Weihnachtsfest in der coronabedingten Schockstarre, an die man sich auch nach einem Jahr nicht gewöhnen mag. Wobei man die trostreichen Geschenke unter dem Baum probeweise daraufhin befragen kann, ob sie aus einem Laden in der Stadt oder aus einer Mall, also aus dem Einkaufszentrum vor der Stadt stammen.

Oder, das dürfte einerseits der Pandemie, andererseits Weihnachten im Lockdown, im Grunde aber dem Zeitgeist geschuldet sein: Die Geschenke des Abgrundjahres 2020 stammen aus dem virensicheren Versandlager von Amazon und Kollegen. Also aus sich breiig in die Landschaft ergießenden Gewerbesteppen jenseits aller Urbanität. Dafür mit Autobahnanschluss.

Was früher Kirche, Rathaus und Residenz waren, ist heute das Logistikzentrum

Wenn die Stadt eine Errungenschaft der Geschichte ist, dann sind Serverfarm und Logistikzentrum die Errungenschaften der Gegenwart. Sie symbolisieren unsere Zeit wie zuvor Kirche, Rathaus und Residenz. Das Humboldt-Forum in Berlin, ein Bau hinter einer schlossähnlichen Tapete, der noch auf seine wahre Bestimmung zu warten scheint, wäre in letzter Konsequenz der ideale Zweit- oder Viertwohnsitz von Jeff Bezos. Das ist der Mann, der Amazon erfunden und die Welt in ein Reich der Kartonagen und Retouren verwandelt hat.

Das Verhältnis der analogen Ding- und der digitalen Warenwelt verschiebt sich mit Verve in Richtung Online-Kultur. Man muss sie gar nicht erst als Unkultur beschimpfen, zur Kenntnis nehmen aber schon. Auf den Punkt bringt es das Autokorrekturprogramm, das auf so penetrante wie seherische Weise auch in diesem Text darauf beharrt, das offenbar schon wieder fremd gewordene, früher begierig eingedeutschte Wort "Shopping-Mall" durch ein den Algorithmen viel sinnvoller erscheinendes Wort zu ersetzen: durch die "Shopping-Mail". Die Mall ist tot, es lebe die Mail. Das wird sich auch nach Corona kaum mehr ändern.

Insofern sind zwei Nachrufe zu schreiben: für Läden und Einkaufszentren. Für etliche tradierte, identifikatorisch wirksame Warenwelten ist dieses Weihnachten so oder so womöglich das letzte Weihnachten. Wobei das Sterben der Malls ein Tod irgendwo dort draußen ist. Das Sterben der Läden ist aber auch das der Stadt. Etwas stirbt von den Typologien, die zum ökonomischen und stadträumlichen, aber auch zum gesellschaftlichen Fundament der Urbanität gehören. Man fragt sich, was aus den Städten wird, wenn zwei ihrer antagonistischen, zugleich konstituierenden Systeme, die sich im gemeinsamen Elend des Niedergangs befinden, fast zeitgleich an ihr Ende gelangen.

Alles dicht und menschenleer: das kalifornische Los Cerritos Center mit dem darin untergebrachten Harkins Theatre. (Foto: Kirby Lee/AP)

Drei Männer im Schnee: Das ist auch eine Szene aus Roland Emmerichs Katastrophenfilm "The Day After Tomorrow". Die drei Männer sind Klimaforscher, die in dem Schneechaos einer dystopischen Eiszeit am Ende der Welt, aber eigentlich nur kurz vor Manhattan unterwegs sind. Ausgerüstet mit einem Schlitten, der das existenziell Nötigste befördert. Dann ist ein nervensägendes Geräusch zu hören, fein und kristallin, scharfkantig und bösartig. Es ist das Glas, das bricht. Ein Mann stürzt, zwei klammern sich mit einem Eispickel ans Leben, unter dem sich ein Abgrund auftut wie eine heimtückische Gletscherspalte.

"Ich hatte Lust auf einen kleinen Einkaufsbummel."

Frank Harris, dessen Leben an einem Seil hängt, der zum seidenen Faden wird, macht noch einen Witz auf eigene Kosten: "Ich hatte Lust auf einen kleinen Einkaufsbummel." Denn er hängt nicht über dem Nichts einer Gletscherspalte, sondern über dem steif gefrorenen Stillstand von Rolltreppen, die wie Ruinen aus so fernen wie seltsamen Kulturen anmuten. Er ist durch die Glasdecke einer gigantischen Shopping-Mall gebrochen. Dann schneidet er sich ab, um die beiden Weggefährten seiner Seilschaft zu schützen. Er stürzt in den sicheren Tod. Der Einkaufsbummel ist vorbei. Danach sind schluchzende Geigen zu hören. Mit keiner anderen Trauermusik lässt sich die Shopping-Mall so angemessen zu Grabe tragen.

Derzeit wird in den USA fast im Wochentakt ein großes Einkaufszentrum nach dem anderen geschlossen. Im Netz kursieren Fotos von traurig verrammelten und entseelt verstaubten ehemaligen Marmor-Glas-und-Rabatt-Tempeln, die auch in Literatur, Kino, Kunst und Popkultur eingegangen sind als zeichenhafte Orte des modernen, nicht unbedingt auch des nachhaltig schönen Lebens. Die Erfindung ist übrigens dem österreichischen Architekten Victor Gruen zu danken, der aufgrund seiner "nichtarischen Herkunft" vor den Nazis in die USA flüchtete und dort von 1952 an bei Detroit, wo auch sonst im Autoland, die erste Shopping-Mall als Stadtimitat unter einem Dach erfand.

Diese Mall sollte Funktionen der Stadt ersetzen, die zuvor der Umschlagplatz der Waren war. Das war das vorläufige Ende der Main Street, die in Europa, neu erfunden als Fußgängerzone, noch lange punkten konnte. Dass in München das, was im Grunde eine Main Street ist, "Kaufingerstraße" heißt: Das ist von wundersamer Logik. Die Pandemie setzt aber auch dieser Kernstadtfigur zu, die längst zur bloßen Ansammlung der immer gleichen Global-Filialisten degradiert wurde - unter dem Druck überteuerter Mieten und der nicht von den Filialisten, sondern den Kunden zu verantwortenden Nachfrage nach dem immer gleichen Warenangebot von Detroit bis München.

Es liegt eine Chance im Elend. Die Stadt ist wiederzugewinnen nicht als Konsumschleuse, sondern als Lebensraum: Was frei wird an Ladenfläche in der Stadt, kann auch Wohnraum oder die Fläche für Produktion und Handwerk sein, die einst aus der Stadt getrieben wurden. Aus Warenlagern können Kulturräume werden. Und aus dem global herumgereichten Plunder können wieder Produkte des Besonderen werden. Austauschbare Warenwelten können besondere Geschäfte sein. Der Handel ist in Not, in Einkaufszentren wie in Innenstädten. Er gehört aber zur DNS der Stadt. Daraus formt sich das Habitat des Urbanen. Mitten in der Krise ist vielleicht die Zeit gekommen, sich auf das zu besinnen, was die Stadt im Kern ausmacht. Es ist die Idee von einem besseren, vielleicht auch von einem anderen Leben.

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