Durs Grünbein: "Äquidistanz. Gedichte":Wieder Weltmeister

Lesezeit: 3 min

"Wie schlachtet man einen Mythos?" Der Dichter Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren. (Foto: Stefan Boness/Ipon/imago)

Richtet sich zwischen den Symbolen der Bildung und des Erinnerns womöglich etwas zu gemütlich ein: Durs Grünbein in seinem Gedichtband "Äquidistanz".

Von Lea Schneider

"Unheimlich, wie wenig wir von der allernächsten Zukunft wissen." So beginnt ein titelloses Gedicht im neuen Lyrikband des vielfach ausgezeichneten Dichters und Essayisten Durs Grünbein, und ein wenig unheimlich wirkt es tatsächlich, wie sehr diese Zeile sich als Prophezeiung des Lesegefühls erweist, das über neun Kapiteln nach und nach aufkommen wird.

"Äquidistanz" ist ein elegisches Buch, das sich in weiten Teilen dem Erinnern und Rückschauen widmet: Grünbein, der in Dresden aufgewachsen ist, viel Zeit in Berlin verbracht hat und seit Jahren (auch) in Rom lebt, gedenkt noch einmal der Wendezeit, besucht wohlbekannte Postkartenmotive des Mythos "Wildes Berlin" und spaziert durch die Kulissen der deutschen Italiensehnsucht. Zwischen diesen Nostalgieschauplätzen tauchen gelegentlich sprachliche Stolpersteine auf: die Toten der Fluchtrouten nach Europa, ein KZ am Rande des hübschen Wanderwegs durch den Brandenburger Wald. Das Seltsame an diesen Störfaktoren aber ist, dass sie kaum stören - zu bequem fügen sie sich ein in den stellenweise fast staatstragenden Ton, der sich durch den ganzen Band zieht, unterbrochen von einigen bemerkenswerten Kalauern: "Durch die Baumstämme glänzen sah man ihn: den Wannsee, den Wahnsee"; oder, in einem Gedicht über den Schnee: "An den Rändern der Welt ist Weiß die beherrschende Farbe, an den Polen. Was hat Polen damit zu tun?" Offenbar nichts, jedenfalls wird diese Frage im restlichen Gedicht nicht weiterverfolgt.

Brauchen Dichter Probleme, um schreiben zu dürfen?

"Unheimlich, wie wenig wir von der allernächsten Zukunft wissen": Vermutlich konnten weder Verlag noch Dichter in der Vorbereitung dieses Bandes etwas vom nahenden Krieg in der Ukraine ahnen. Und natürlich lässt sich trefflich darüber streiten, welche Art von Gedichten es nach dem 24. Februar 2022 braucht - oder ob es diese gerade überhaupt braucht, wie die ukrainische Lyrikerin Halyna Kruk vor Kurzem zum Auftakt des Poesiefestivals Berlin fragte. Aber selbst wenn man von der Notwendigkeit von Lyrik gerade in Zeiten des Krieges und der Katastrophe überzeugt ist, kann man eine gewisse Irritation beim Lesen gleich mehrerer Grünbein-Gedichte, die sich vornehmlich mit der Ärgerlichkeit von Insektenstichen beschäftigen, nicht ganz beiseiteschieben: "Man hört das Summen, ein Bombergedröhn. / Der Dritte Weltkrieg der Insekten ist ausgebrochen. / Die ganze Nacht wird kein Auge zugetan. / Morgens sind die Handrücken, die Füße /mit roten Wundmalen bedeckt, die brennen, brennen." Abgesehen von der Metaphorik, die angesichts der aktuellen Weltlage schmerzhaft unangemessen erscheint, schleicht sich bei Gedichten wie diesen, die zudem größtenteils umgeben sind von bildungsbürgerlichen Reminiszenzen auf griechische oder lateinische Klassiker, das Gefühl ein, hier schreibe einer, dessen größtes Problem ein Mückenstich ist.

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Brauchen Dichter Probleme, um schreiben zu dürfen? Nicht unbedingt. Aber ein gewisses Maß an Dringlichkeit und Bereitschaft, dorthin zu gehen, wo es auch für einen selbst unbequem wird - das ließe sich erwarten von einem Autor wie Grünbein, der andernorts engagiert in den öffentlichen Diskurs eingreift und in der Vergangenheit etwa Position gegen die Pegida-Bewegung in seiner Heimatstadt oder antisemitische und rassistische Aussagen anderer Schriftsteller bezogen hat.

"Gedichte sind nicht dazu da, die Dinge unverständlich auszudrücken, sondern, um das Unverständliche auszudrücken", hat der Lyriker Ramy Al-Asheq einmal gesagt. Von den vielen Definitionsversuchen dieser notorisch schwer zu definierenden Gattung ist dies vielleicht einer der überzeugendsten: Lyrik kann es gelingen, zur Sprache zu bringen, wofür es zuvor keine Sprache gab. Sie ist ein Modus des Erkennens, des Begreifbar- und Besprechbarmachens, des wortwörtlichen In-Worte-Fassens.

Durs Grünbein: Äquidistanz. Gedichte. Suhrkamp, Berlin 2022. 183 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Ein solcher Modus des plötzlichen Sichtbarmachens gelingt Grünbein in einigen Gedichten im zweiten Teil seines Bandes, in denen er Postkartenmotive aus den 1930er-Jahren mit dem Text auf der Rückseite ebendieser Postkarten kombiniert. Diese objets trouvés erlauben eindrückliche Zuspitzungen, zum Beispiel in Form einer Postkarte, auf der die Allee Unter den Linden im Festschmuck zu sehen ist und auf deren Rückseite eine Ilse an ihre Freundin Irma in Wien schreibt, die deutsche Hauptstadt interessiere sie "nicht die Bohne", während Grünbein, das sonnendurchflutete Motiv auf der Vorderseite der Karte beschreibend, hinzufügt: "August 36 [...] Deutschland zeigt sich / von seiner Schokoladenseite. / Berlin grüßt die Welt."

Ansonsten aber wiederholt Grünbeins gesetzte Sprache hauptsächlich, was man schon weiß. Gerade an Stellen, an denen es darum ginge, das zu tun, was eben vielleicht nur Lyrik kann - dem Unsagbaren trotz allem sprachliche Konturen zu geben -, werden Allgemeinplätze gebraucht, die gut und lange eingewohnt sind. Dort, wo es unheimlich werden könnte, versichert der Text sich selbst und seinen Lesern, auf der richtigen Seite zu sein: als Erinnerungsweltmeister, deren Vergangenheit gründlich aufgearbeitet ist. Dazu trägt auch bei, dass Grünbein beispielsweise das Ende der Zwanzigerjahre als eine Zeit beschreibt, "als die Blindenführer Europas beschlossen / ihre Bevölkerungen als Geiseln zu nehmen". Dass die Bevölkerungen Europas keinen aktiven Anteil am kommenden Faschismus hatten, ist zumindest im Hinblick auf Deutschland eine gewagte These.

"Kein Vergleich, das hieß: / Nur ein Mythos wird bleiben. / Wie schlachtet man einen Mythos?", fragt eines der Gedichte in Bezug auf das Dritte Reich. Eine gute Frage. "Äquidistanz" bleibt leider das Gegenteil einer Mythenmetzgerei; vielleicht eher ein gemütlicher Museumsbesuch am Sonntagnachmittag oder ein um dreißig Jahre aus der Zeit gefallener Mottoband zum Thema "Ende der Geschichte".

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