"Cherry Jam" von Don Cherry:Ich bin so aufgeregt und durcheinander

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Ein paar Gedanken zum Thema der kulturellen Aneignung im Jazz anlässlich einer neuen alten Don-Cherry-Aufnahme.

Von Thomas Steinfeld

Gerade ist ein Album erschienen, das wie ein Gruß aus längst vergangenen Zeiten wirken könnte - wären die vergangenen Zeiten nicht so modern gewesen. Der amerikanische Trompeter Don Cherry, der 1936 geboren wurde und 1995 starb, spielt auf dieser Aufnahme, die im Oktober 1965 in Kopenhagen entstand, zusammen mit vier dänischen Musikern. Sie gehören zum Personal des Jazz-Clubs "Montmartre". Ein paar Wochen später sollte Don Cherry in New York die Schallplatte "Complete Communion" einspielen, eines der ersten großen Werke des Free Jazz. In Dänemark hingegen ging es, wie das Album "Cherry Jam" zeigt, eher konventionell zu. Der Jazz-Spezialist hört "Hardbop", alle anderen eine meist schnell gespielte, rhythmisch stark akzentuierte und auf die Soli von Trompete und Saxophon konzentrierte Jazz-Variante. Zu hören ist auch, dass die Trompete das Geschehen zwar zuweilen anführt, die vier anderen Musiker aber, jeder für sich, das Ihrige vortragen und gegenüber dem importierten Kollegen nicht zurückstehen.

In der Rockmusik regieren die Bands. Aus solchen festen Einheiten gehen manchmal Solisten hervor, häufiger bleiben die Musiker einer Band unter sich und spielen hauptsächlich miteinander. Der Jazz funktioniert anders. Seine Assoziationen sind eher temporär, eine Gruppe versammelt sich um einen Anführer, um ein Album aufzunehmen oder auf Tournee zu gehen. Danach geht man wieder getrennter Wege. Schon bei der nächsten Session kann der Anführer zum "Sideman" werden oder der Begleitmusiker zum Chef.

Damit das klappt, sind zwei Voraussetzungen nötig: Ein großes, aber einfach strukturiertes Repertoire, das alle kennen, und die Beherrschung des eigenen Instruments. Dilettanten haben es schwer im Jazz, umso größer aber sind die Freiheiten für die Könner. Möglich ist dann alles, was gut oder interessant klingt.

Duke Ellington und Miles Davis mochten den Begriff "Jazz" überhaupt nicht

Don Cherry, Sohn einer Choctaw und eines Schwarzen, war im Jahr 1963 zum ersten Mal in den europäischen Norden gereist, um zusammen mit dort heimischen Musikern aufzutreten. Er blieb einige Wochen oder Monate, kehrte in die Vereinigten Staaten zurück, reiste wieder nach Kopenhagen oder nach Stockholm, um sich 1967 in Schweden niederzulassen. Er blieb viele Jahre, mitsamt Taschentrompete. Dutzende von damals jungen schwedischen Jazzmusikern gingen durch seine Schule. Und er war nicht allein: Der Saxophonist Stan Getz hatte in Kopenhagen gelebt, wohin ihm der Trompeter und Bandleader Thad Jones folgte. Der Pianist George Russell lebte in Stockholm, wo auch der Bassist Red Mitchell zu Hause war. Die Liste ließe sich um mindestens ein Dutzend Namen verlängern.

Die engen Verbindungen zwischen den amerikanischen Musikern und ihren weißen Gefährten aus dem europäischen Norden brachten dabei bald eine eigene Spielart des Jazz hervor: Im Jahr 1961 verwandelte Stan Getz das schwedische Volkslied "Ack Värmeland, du sköna" in eine Jazz-Ballade, gab ihr den Titel "Dear Old Stockholm" und machte es so zum Jazz-Standard. Aus solchen Mischungen entstand sogar ein eigenes Sub-Genre: der nordische Jazz. Auch das erste Stück aus Don Cherrys neuem, alten Album, eine Komposition mit dem Titel "The Ambassador from Greenland", trägt Spuren dieser Jazz-Spielart.

(Foto: N/A)

Zu der alten, aber im Rahmen der laufenden Diskussionen um Identität, Diskriminierung und Teilhabe aktuellen Frage, ob Jazz zu spielen für nichtschwarze Menschen eigentlich ein Fall von unzulässiger "kultureller Aneignung" ist, ist der Fall Don Cherry eine interessante, für die Geschichte des Jazz aber gar nicht einzigartige Tangente. Was ihn für die Diskussion allerdings nur noch interessanter macht.

Die Wurzeln des Jazz liegen unverrückbar in der afrikanischen Musik. Alles, was charakteristisch ist für Jazz, lässt sich auf schwarze, afrikanische Ursprünge zurückführen: Polyrhythmik, Polymetrik, die Frage-Antwort-Dramaturgie. Jazz ist eine Schöpfung schwarzer Musiker. Die zwei wohl bedeutendsten Jazzmusiker, Duke Ellington und Miles Davis, mochten deshalb nachvollziehbarerweise den Begriff "Jazz" überhaupt nicht, weil seine Wurzeln im englischen Slang der amerikanischen Westküste um die Jahrhundertwende liegen, und so ihrer Ansicht nach die afrikanischen Wurzeln der Musik unzulässig verwischt würden.

Der Zugriff der schwarzen Jazzer auf das weiße Songmaterial geschah natürlich aus einer Art Notwehr

Auf dem Weg von Afrika über die nach Amerika verschleppten Sklaven in die Mitte der Musikgeschichte des Westens ist die Geschichte des Jazz allerdings vertrackterweise auch die Geschichte der Interpretation und also Aneignung von populären Unterhaltungssongs aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die ursprünglich von Weißen komponiert worden waren: "All Of Me" etwa, "My Funny Valentine" oder "Autumn Leaves". Eine wesentliche Arbeitsgrundlage des Jazz ist deshalb das sogenannte "Real Book", eine Sammlung von etwa 500 "Lead Sheets", vereinfachten Darstellungen von Melodien und Akkordfolgen der Standards. Im Lichte der aktuelle Debatte könnte man es auch eine Handreichung für kulturelle Aneignung aller Art nennen. Als Zettelsammlung war sie lange illegal, weil von den Songwritern nicht lizensiert. Die heute erhältliche sechste Auflage enthält keine Urheberrechtsverletzungen mehr.

Der Zugriff der schwarzen Jazzer auf das weiße Songmaterial, auch das gehört zur Geschichte dieser Seite der Aneignung, geschah aber natürlich aus einer Art Notwehr. Die Melodien bekannter weißer Hits waren auch der Trick, um in einer von Weißen dominierten, Schwarze und ihre Kultur selbstverständlich diskriminierenden Gesellschaft gehört zu werden. Duke Ellington, geboren 1899, Sohn eines Washingtoner Oberkellners, spielte von Ende der Zehnerjahre an als Tanzmusiker für ein hauptsächlich weißes Publikum. Ein Song-Repertoire aus in dieser Welt völlig unbekanntem schwarzem Blues hätte da nicht funktioniert.

Mit zu schlichten Begriffen von Identität und kultureller Aneignung kommt man im Jazz dementsprechend nicht allzu weit. Auf der afrikanischen Basis ist vielmehr das anspruchsvoll schillernde Sprengen, Ergänzen und Verwandeln von Traditionen und Identitäten integrale Praxis des Jazz.

Zu den kleinen Werken, die Don Cherry und sein dänisches Rudel in Kopenhagen einspielten, gehört in diesem Sinn übrigens auch die Ballade "You Took Advantage Of Me". 1928 schrieben sie der weiße Komponist Richard Rodgers und der weiße Texter Lorenz Hart. Selbstverständlich ist sie auch schon lange Teil des "Real Book". Don Cherry setzt der Ballade in seiner Version auf dem Album eine lange Reihe schneller, spitzer Töne auf. Der Text des Liedes lautet: "I'm so hot and bothered that / I don't know my elbow from my ear" - "Ich bin so aufgeregt und durcheinander, dass ich meinen Ellbogen nicht von meinem Ohr unterscheiden kann". Von einem Verlust von Identität handelt der Song. Vorgetragen wird er von Don Cherry allerdings mit großem Selbstbewusstsein.

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