Elfte Station in Bissau, Guinea-Bissau:Langsam

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Am zweiten Tag seiner neu gefundenen Langsamkeit sah er einen Falken gelassen über einen Innenhof spazieren, einen Schlafwandler am helllichten Tag und einen jungen Mann mit einer Fliege aus purem Gold um den Hals - ja, und den Präsidenten, der eine knallrote Schimütze als Zeichen seiner Macht am Kopf trug. (Foto: Michael Glawogger)

Sein Handy klingelte jede Nacht. Er ignorierte es, doch an einem Dienstag hob er ab. Da er selbst am anderen Ende der Leitung war, wusste er nicht, was sprechen. Er wusste ja schon viel zu genau, was er sagen würde, wenn er sich selbst etwas fragte. Eine fiktive Geschichte, die auf ganz realen Beobachtungen beruht.

Von Michael Glawogger

Sein Handy klingelte jede Nacht. Er ignorierte es, doch an einem Dienstag hob er ab. Da er selbst am anderen Ende der Leitung war, wusste er nicht, was sprechen. Er wusste ja schon viel zu genau, was er sagen würde, wenn er sich selbst etwas fragte.

Als er den dunkelrot gekachelten Raum betrat, wurde er ganz langsam. In seiner Haltung, seinen Bewegungen und innerlich: langsam. Er wusste nicht, woher diese Befindlichkeit kam, aber er musste sie akzeptieren. Sie fühlte sich richtig an.

Er war erst drei Tage hier in dieser Stadt und genau in dem Moment, in dem er den dunkelrot gekachelten Gastraum des Restaurant Monte Carlo betrat, wusste er, dass er nichts mehr zu tun hatte. Und zwar nicht, weil er nicht etwas zu tun hätte haben können, sondern weil man nichts zu tun hatte in diesem Land.

Filmprojekt von Michael Glawogger
:Vom Zauber des Augenblicks

Der preisgekrönte Dokumentarfilmer Michael Glawogger ist zu einer ungewöhnlichen Reise aufgebrochen: Ohne Script und ohne Plan will er sich ein Jahr lang um die Welt treiben lassen und spontan alles Interessante aufnehmen. Mit dabei ist Süddeutsche.de: Der Filmemacher berichtet über seine Abenteuer im Doku-Blog.

Von Paul Katzenberger

Es war keine Eile geboten, denn es gab auch nichts zu versäumen. Es war nicht zu erwarten, dass der morgige Tag anders sein würde als der heutige. Die Sonne wird scheinen, so wie sie heute scheint, manchmal wird eine leichte Brise den Sand über die Straßen treiben, am Markt werden Sachen verkauft werden: Schuhe, Hosen, Hemden, originale Samsung Handys, auf denen der Name Samsung falsch geschrieben war - Fsamsunge.

Es fiel ihm ein, dass er sein eigenes Handy im Hotel hatte liegen lassen. In Wahrheit auch egal. Er hätte auch nicht gewusst, wen anrufen. Man traf sich hier an der Straßenecke oder in der Bar, in der Fußball geschaut wurde oder eben im Monte Carlo.

Er setzte sich und schaute den Menschen zu, wie sie die Straße vor dem Lokal entlang schlenderten. Schöne Menschen, alle ein Lächeln auf den Lippen, alle in der halben Geschwindigkeit, die einem sonst vom Dasein diktiert wird. Ist das Leben, wenn man so lebt, nur halb so lang oder doppelt so lang? Schwer zu sagen.

Schlafwandler am hellichten Tag

Es gäbe wohl für beides Argumente. Man erlebt vielleicht nur halb so viel, aber nimmt es länger wahr. Wie ein Moment in Zeitlupe. Meist sind ja Szenen des Krieges, des Sterbens oder Aktionen von großer Theatralik in Zeitlupe, damit man sie eingehender betrachten kann: wenn ein Kugelhagel einen Körper trifft, wenn brutale Schläge auf ein wehrloses Opfer einprasseln, wenn sich Liebende mit wehenden Haaren in die Arme fallen. Oder Dinge, die man sonst nicht sieht. Wie eine Gewehrkugel durch die Luft fliegt, zum Beispiel.

Er machte sich darauf gefasst, solche Dinge zu sehen. Das geschah nicht gleich, aber am zweiten Tag seiner neu gefundenen Langsamkeit sah er einen Falken gelassen über einen Innenhof spazieren, einen Schlafwandler am helllichten Tag und einen jungen Mann mit einer Fliege aus purem Gold um den Hals - ja, und den Präsidenten, der eine knallrote Schimütze als Zeichen seiner Macht am Kopf trug.

War das Militär mit dem Präsidenten nicht mehr einverstanden, dann schnitten sie ihm den Kopf ab und behielten nur die Mütze. Das hatte ihm zumindest der Falke erzählt, bei dem er immer kurz halt machte, auf seinem Weg von - naja, von A nach B. Meist hatte er vergessen, wohin er gerade unterwegs war. Aber er hatte sich ja auch kein Ziel mehr vorgenommen.

Die Menschen in den wenigen Fernsehgeräten verbreiteten noch eine gewisse Aufgeregtheit. Die Welt da draußen, die schnelle Welt, war aus verschiedenen Gründen in Aufruhr, meist warfen vermummte Demonstranten Steine oder andere schossen in eine Menge.

Militär marschierte auf und gut frisierte Reporter sprachen in stakkatoartiger Geschwindigkeit schnelle Worte über die schnelle Welt. Diese Welt ist die richtige Welt, denn über sie wird berichtet. Die langsame Welt dauert zu lange. Die bleibt unsichtbar, weil sie ja, spräche man über sie in der schnellen Welt, in Zeitlupe wäre und dann muss sie schon etwas ganz ganz besonderes sein, denn Zeitlupe kommt nicht oft vor, nicht einmal im Kino.

Er erwachte mitten in der Nacht, weil sein Fsamsunge läutete. Er versuchte es zu ignorieren und zog sich das Leintuch über den Kopf, aber es läutete immer weiter. Er konnte sich nicht erinnern, es in den letzten Tagen überhaupt aufgeladen zu haben und seitdem er nicht mehr im Hotel wohnte, hatte er auch nur mehr selten Strom.

Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wer ihn wohl gerade anrief. Er erwachte schließlich doch vollends und stand auf - in gebotener Langsamkeit. Er suchte im stockdunklen Raum das Telefon. Als er es fand und abhob, legte der oder die ihn wohl angerufen hatte, auf. Er starrte auf die Nummer, aber erkannte sie nicht. Nicht einmal die Vorwahl erkannte er. Er starrte auf das Display und debattierte mit sich, ob er zurückrufen solle. So blieb er sitzen, bis es Morgen wurde.

Der Tag, der heraufdämmerte, war wie die anderen Tage, seit er hier angekommen war. Der Wind trieb ein bisschen Sand über die Straße, die Sonne schien und der Nescafe schmeckte, wie er eben schmeckt.

Beim Fernseher im Monte Carlo hatte jemand vor Tagen den Ton abgedreht und niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn wieder aufzudrehen. So stumm geschaltet, wirkte auch der Fernseher langsamer als sonst. Als hätte das Fehlen des Tones ihm die behauptete Unmittelbarkeit geraubt.

Alle trugen rote Zipfelmützen

Er gewöhnte sich an, während des Mittagessens wieder zuzuschauen und lernte nach einem Monat die Lippen zu lesen, nach einem weiteren konnte er die Texte live mitsprechen. Nur schade, dass er selbst kein Portugiesisch sprach. Doch allem Anschein nach war Russland wieder größer und Deutschland wieder dritter bei der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien geworden. Der neue Präsident hatte immer noch eine rote Zipfelmütze. Und sein Handy läutete immer noch jede Nacht.

An einem Dienstag hob er ab. Da er selbst am anderen Ende der Leitung war, wusste er nicht, was sprechen. Er wusste ja schon viel zu genau, was er sagen würde, wenn er sich selbst etwas fragte. Und wahrscheinlich war es ja auch ein einfach erklärbares Delay - wo man früher oft und heute noch manchmal - bei Ferngesprächen seine eigene Stimme hört.

Er blieb bis zum Morgen sitzen und schaute aus dem Fenster. Der Tag, der heraufdämmerte, war wie die anderen Tage, seit er hier angekommen war. Der Wind trieb ein bisschen Sand über die Straße, die Sonne schien und der Nescafe schmeckte, wie er eben schmeckt.

Und doch war alles anders an diesem Tag. Denn als er auf die Straße trat, trugen alle rote Zipfelmützen. Sie taten, was sie immer taten und taten es in aller ihnen gebotenen Langsamkeit. Sie kochten, sie verkauften, sie schlugen fröhlich zur Begrüßung ein, sie lachten herzlich, sie putzten vor ihrer Haustüre, sie telefonierten - aber alle, alle trugen eine rote Zipfelmütze.

Der Besitzer des Monte Carlo, ein aus Portugal geflohener Kleinkrimineller, der exzellent Deutsch sprach und auf das Schönste tätowiert war, nahm ihn zur Seite und riet ihm, schnellstmöglich das Land zu verlassen. Das was sich da abspiele, könne man nur als Revolution verstehen. Und in solchen Zeiten wäre es doch besser, woanders zu sein.

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