15. Station in Freetown, Sierra Leone:Haltlos

Lesezeit: 5 Min.

Für ihr Geschäft haben die Buben Holzbretter mit kleinen Rädern gebastelt, mit deren Hilfe sie die vollen Kanister leichter den Hang hochschieben können, und auf denen sie auch wieder hinunter rasen. (Foto: Michael Glawogger)

Auf seiner Weltreise meldet sich Dokumentarfilmer Michael Glawogger aus Freetown, Sierra Leone. Dort fühlt er sich wegen des Mangels an fließendem Wasser an seine Kindheit erinnert. Eine fiktive Geschichte, die auf ganz realen Beobachtungen beruht.

Von Michael Glawogger

Finster war's, der Mond schien helle, schneebedeckt die grüne Flur, als ein Wagen blitzesschnelle langsam um die Ecke fuhr. Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft, als ein totgeschoss'ner Hase auf der Sandbank Schlittschuh lief.

Es ging bergab. Nicht sehr steil, aber doch deutlich bergab. In der Luft ein Geräusch, als würde bald ein Skateboard an ihm vorbei rattern. Aber wer fährt in Freetown schon Skateboard? Das müsste ja selbst hier schon aus der Mode sein.

Und doch: wieder ein Windhauch, wieder das unruhige Rollen der kleinen Räder. Die Straße, an deren Rand er saß und ein heißes Fanta trank, war stockdunkel. Der Strom war den ganzen Tag gar nicht erst angegangen, wohl um nicht nach einer Stunde wieder ausfallen zu müssen.

Jetzt zischte etwas an ihm vorbei, hinunter in Richtung Regent Road und Hafen. Die hell leuchtenden Schiffe waren die einzigen Lichtquellen, die in einiger Entfernung zumindest das Meer zum Strahlen brachten. Und wieder rumpelte es neben ihm über den unebenen Asphalt.

Was hinunter muss, muss auch hinauf, dachte er noch, als er plötzlich begriff, was hier los war. Es ging um die gelben Kanister - und wenn es um die geht, dann geht es um Wasser. Neben dem Strom fehlt es in allen westafrikanischen Groß- und Kleinstädten an Wasser - vor allem an fließendem Wasser in den Häusern. Die Frauen müssen es von öffentlichen Brunnen holen und sich dort anstellen, und außerhalb der Regenzeit dauert es noch länger, bis neues geschöpft werden kann.

Filmprojekt von Michael Glawogger
:Vom Zauber des Augenblicks

Der preisgekrönte Dokumentarfilmer Michael Glawogger ist zu einer ungewöhnlichen Reise aufgebrochen: Ohne Script und ohne Plan will er sich ein Jahr lang um die Welt treiben lassen und spontan alles Interessante aufnehmen. Mit dabei ist Süddeutsche.de: Der Filmemacher berichtet über seine Abenteuer im Doku-Blog.

Von Paul Katzenberger

Dieses Wasser wird dann mit Plastikkübeln in ubiquitäre gelbe Kanister gefüllt. Wo es solche Arbeit gibt, da gibt es auch Business, und dieses haben hier die Buben zwischen acht und fünfzehn an sich gerissen.

Immer stolz

Sie haben Holzbretter mit kleinen Rädern gebastelt, mit deren Hilfe sie die vollen Kanister leichter den Hang hochschieben können, und auf denen sie auch wieder hinunter rasen. Fast bis Mitternacht huschen, rattern und rutschen sie wie kleine Gespenster bergab und schieben die Rollbretter mit den Kanistern keuchend, schwätzend und lachend wieder hinauf.

Wettrennen gibt es auch - zwischen den Motorrädern mit ihren blendenden Scheinwerfern, den Autos, die in dieser schmalen Straße alles zur Seite drücken, und den Menschen, die mit ihren Taschenlampen wie Glühwürmchen durch die Dunkelheit schweben, flitzen sie neuen Aufträgen entgegen.

Haltlos, im freien Fall in das nur für Momente aufleuchtende Dunkel. Manchmal sieht man nur ihre Augen und ihre Zähne. Man hört sie lachen und kreischen und sieht sie erst um Mitternacht herum erschöpft am Straßenrand stehen - ihre Haltung aber immer stolz. Sie sind die Chefs hier. Der Job ist gut und gut bezahlt in ihrer Welt.

Neid im Genick

Einer, kaum älter als sieben, steht mit in die Hüften gestützten Händen da, um zu verschnaufen. Wie ein erwachsener Sportler. Keiner der Älteren, die mit großen Handkarren das Zehnfache an Kanistern hinauffahren und das Geschäft zum größeren Geschäft gemacht haben, macht sich lustig über die Kleinen.

Sie sind denselben Weg selbst schon tausendmal auf und ab gegangen und wissen, was das heißt. So lange die Jungen nicht zu aufmüpfig werden, sind sie geduldet. Wie Mücken, die nicht stechen. Hierarchien sind hier klar und unverhohlen. Will ein Jüngerer sein Territorium erweitern und sucht Streit, dann muss er entweder stärker sein oder wird so lange geprügelt, bis er nachgibt. Haltlos.

Er spürte so etwas wie Neid in sich hochsteigen. Er kam von hinten und setzte sich in sein Genick wie eine Hand, die leicht unter Strom steht. Neid, nicht nur wegen der Wildheit einer solchen Kindheit, sondern auch wegen der gefährlichen Ausgelassenheit dieser Art von Leben.

Er wurde müde bei diesem Gedanken, weil er ihn schon zu oft gedacht hatte. Er saß schon lange irgendwo zwischen Herz und Hirn und vegetierte dort vor sich hin. Er sprach ihn nicht mehr aus. Oder nur selten und nur vertrauten Seelen gegenüber.

Es gab zu viele Argumente dagegen, und er sah sie alle ein. Aber der Gedanke ging nicht weg. Schon gar nicht, als er drei der Buben einen wilden Ritt auf ihren Kanistern machen sah. Sie würden unten ankommen, die Kanister füllen, sie schwitzend hinaufschieben, von den Hausfrauen tausend Leon kassieren, die Scheine mit einer lässigen Geste zerknüllt in die Hosentasche stecken und davonziehen, als gehöre ihnen die Welt.

Sie geben ihren Eltern (so sie welche haben und sie kennen) Taschengeld - und nicht umgekehrt. Und sie gehen morgen nicht in die Schule oder schlafen dort friedlich, bis der aufgebrachte Lehrer sie weckt. Sie werden bleiben, wo sie sind, und die eine oder andere Karriere machen - als Beach Boy vielleicht oder als Quellenbesitzer, als einer, der das Wasser verteilt und nicht mehr selbst trägt oder schiebt. Als einer, der sitzt und nicht mehr läuft. Einer, der kommen lässt und nicht mehr kommt.

Für einen Moment lang wurde es still in der Straße, was hier selten vorkommt. Kein Motorrad bog um die Ecke, kein alter Minibus mit der Aufschrift einer Blumenhandlung irgendwo in Nordrhein-Westfalen blieb im offenen Kanal stecken, keine Frau mit Plastikkübel oder einer Schale voller Früchte auf dem Kopf stolzierte aufrecht vorbei, und auch von den kleinen Buben mit ihren Kanistern war keiner zu sehen.

Der Generator des winzigen Gemischtwarenladens spuckte noch zwei Mal und brachte dann die letzte Glühbirne an dieser Kreuzung zum Erlöschen. Dann war es nicht nur still, sondern auch finster. Ganz still und ganz finster. Selbst der Mond hatte sich verkrochen.

Unter Männern

Einer der Buben stand plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm und schaute ihn groß und fragend an, wie ein Weißer eben angeschaut wird. Er kannte den Blick und mochte ihn. Der Bub streckte eine Hand aus und berührte ungläubig seine helle Haut. Dann lachte er lauthals auf, als habe er einen Witz gemacht, nahm ihm das heiße Fanta aus der Hand und trank es in einem Zug leer. Sie sagten einander ihre Namen und stießen, wie es sich unter Männern hier gehört, die geballten Fäuste der rechten Hände aneinander.

Die winzige Faust des Buben fühlte sich unwirklich an, aber die Bewegung war schon geübt und elegant. Er wollte ihm noch etwas Aufmunterndes sagen, doch der Kleine kam ihm zuvor: "Good luck, Poto!", rief er ihm zu, schwang sich auf seinen Kanister und rutschte in die Tiefe.

Er wollte schon "I'll need it" hinterher rufen. Aber es wäre wohl sinnlos gewesen, soweit war er schon weg.

Möge er die Widersprüche seines Daseins surfen wie den glatten Asphalt dieser Straße - der Savage Road. Er hätte gerne mit ihm Cowboy und Indianer oder Vater, Vater, leih ma d'Scher gespielt. Cowboy und Indianer ist ein kniffliges Spiel, weil man sich nur schwer darauf einigen kann, wer denn nun wen erschossen habe.

An vieler Tage Abenden seiner Kindheit war er dann mit seinen Freunden, mit verbogenen Federn und rauchenden Colts, im Gras gelegen. Sie hatten einander von Abenteuern erzählt, die sie noch nicht erlebt hatten, Rätsel erfunden und Gedichte aufgesagt, die sie irgendwo gehört hatten.

Finster war's, der Mond schien helle, schneebedeckt die grüne Flur,

als ein Wagen blitzesschnelle langsam um die Ecke fuhr.

Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft,

als ein totgeschoss'ner Hase auf der Sandbank Schlittschuh lief.

Und ein blondgelockter Jüngling mit kohlrabenschwarzem Haar

saß auf einer grünen Kiste, die rot angestrichen war.

https://www.facebook.com/MichaelGlawogger

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: