Robin Hood lauerte im dunklen Wald den Habgierigen auf, enteignete sie uncharmant und gab die Profite weiter an die Armen. Ungefähr so etwas hat Christopher Brückner am Buchmarkt vor. Er, Patentanwalt in München, beäugt seit Jahren fasziniert das dreiste Gebaren von Amazon, einer Firma, die sich alle Werkzeuge und Register des deutschen Buchmarkts gekauft hat und dennoch Bücher nur als eine Ware unter anderen ansieht.
Brückner beschäftigt seit Langem die Frage, ob man Onlinebesteller genauso flott bedienen könnte wie der Branchenriese, ohne den zur Zeit blühenden lokalen Buchmarkt dabei zu beschädigen - im Gegenteil, in einer paradoxen Aktion beider Vorteile miteinander verschränken. Soeben ist die neue Bestellwebsite www.koliro.de online gegangen; es wird bereits geliefert.
Anders als die euphorisierten Buchhändler, die sich vor Kurzem in Frankfurt von der Kulturstaatsministerin haben auszeichnen und belobigen lassen, schaut Brückner nicht auf die vier Fünftel aller deutschen Leser, die mit dem über Nacht belieferten lokalen Handel rundum glücklich sind. Viele von diesen schwören, wie Frau Grütters selbst, nie bei Amazon bestellt zu haben. Der Kopf hinter Koliro aber ist sich sicher, dass Menschen, die ihr ganzes Leben über das Smartphone organisieren, für den lokalen Handel nicht zurückzugewinnen sein werden. Das überaus Gewagte an seinem Modell: Er wird erhebliche Gewinne an lokale Buchhändler zurückspeisen, die für einen eher geringen Monatsbeitrag bei ihm Mitglied werden können.
Kunden wählen per Klick einen Lieblingsbuchhändler, der nun bei jeder Bestellung begünstigt wird
Die Idee des Patentanwalts wäre nichts als eine neue Maske am elektronischen Markt, hätte Brückner die Sache nicht von Grund auf durchgeplant. Er hat einen der beiden führenden Großhändler, nämlich Koch, Neff und Volckmar (KNV), überzeugen können, für Koliro das Bestellsystem, das Verzeichnis der Bücher, das Lager und die Logistik des Versands zur Verfügung zu stellen. Nur in dieser Kombination kann der neue Anbieter in den E-Markt einbrechen, den Amazon zur Zeit zu etwa zwei Dritteln mühelos okkupiert.
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Wenn Großhändler den Kunden direkt beliefern, sind sie, in dem Segment, allerdings keine Großhändler mehr, sondern Einzelhändler. Libri, der andere Marktführer, hat längst einen externen Partner, eine Genossenschaft namens Ebuch, deren Plattform unter dem Namen genialokal die Direktbestellung eines Buchs - nach Hause - sehr wohl ermöglicht. Wenn man drauf besteht. Zweck der Website aber ist, den netzaffinen Kunden mit dem Buchhändler zu vernetzen.
Die Landschaft des Buchhandels besteht aus Konkurrenzverhältnissen, wirklich oder eingebildet, zwischen Verlagen, Groß- und Einzelhändlern - und zwar vertikal, quer und diagonal. Lepsius-Schüler und "Querdenker" der Branche Lorenz Borsche hat vor zwei Jahren in einem Fachartikel mal die Kosten dafür benannt. Im Jahr 2001 nämlich hatten die Großhändler ihre Vorbehalte aufgegeben, um gemeinsam eine allumfassende "Deutsche Bücherdatenbank" zu erstellen, inklusive Standardformular für Kleinstverleger; an alles war gedacht. Das Projekt scheiterte an der "Angst der Verleger", so Borsche - vor dem Großhandel. Elektronische Logistik ist tatsächlich Wissen, Wissen, welches Buch es gibt und wo es zu haben ist - egal letztlich, wer sucht: der Großhändler, der Buchhändler oder der Kunde.
So kommt es zu dem falschen Eindruck, dass Amazon immer schon hätte, was anderen fehlt. Es gibt sogar eine Menge Kunden, die glauben, per Onlinebestellung günstiger als im Buchladen zu kaufen, trotz Buchpreisbindung. So wirtschaftet Amazon locker unterhalb des Überbaus von Verlegern, Genossenschaften, Verbänden und Kritik. Sollte man diesen Teil des Marktes abschreiben - oder kann man dagegen an?
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Mit der Logistik von KNV wird Koliro ein ernsthafter Konkurrent am elektronischen Markt: eine einfache, freundliche Bestellseite mit Koalabärchen zum Merken. Jedes Buch wird sogleich aus dem riesigen Lager in Erfurt an den Kunden direkt versandt. Am 1. Oktober ging es los. Dahinter aber steht das Robin-Hooding: Patentanwalt Brückner wird nach einem halben Jahr seine Buchhändler listen. Kunden können mit einem Klick einen Lieblingsbuchhändler wählen, der dann bei jeder Bestellung begünstigt wird. Brückner tariert jetzt noch die Margen aus, aber er versucht, den Gewinn für den Buchhandel auf 25 Prozent - pro Buch - hochzuschrauben.
Das erzähle ich einem Autor der aktuellen Shortlist. Antwort: "Aber warum sollte er das tun? Das kann doch gar nicht sein!" Sibylle Lewitscharoff, als Buchkäuferin ganz lokal, findet dies dagegen "eine interessante Initiative". David Wagner würde "jede Alternative zu Amazon" gutheißen, "besonders dann, wenn der Buchhandel davon etwas hat"; Georg Klein, der fern von jedem Buchhändler lebt, begrüßt ebenfalls den Neubeginn - ein erstes Echo von Schriftstellern.
Das neue Konzept richtet sich an Leute, die gar nicht mehr wissen, was eine Fußgängerzone ist
So wunderlich es ist, was Brückner da konstruiert hat: Ohne Fair-Trade-Modell wäre er niemals an den Start gekommen. Niemals hätte KNV die eigene Logistik einem Netzunternehmer zur Verfügung gestellt, der sich auf Kosten des Buchhandels bereichern wollte. Patentanwalt Dr. Brückner ist in dieser Sache mehr Erfinder als Unternehmer. Ein schräger Vogel, gewiss: Während seines Pharmaziestudiums in Berlin ließ er sich an der Deutschen Oper zum Sänger ausbilden; knifflige Fragen der Pharmaforschung brachten ihn zum Patentwesen; "Ergänzende Schutzzertifikate" heißt sein deutsch-englisches Standardwerk (Ladenpreis: 330 Euro). Weder war er je Buchhändler, noch will er einer werden. Eins steht fest: Eine Schlaftablette ist der Mann nicht.
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Selbstverständlich ist der Einwand der Konkurrenten - Libri als Großhändler mit Ebuch als dort eingeklinkte Genossenschaft - berechtigt: Genialokal biete doch bereits die Plattform, ein Direktversand vom Lager sei dort auch zu haben; und die Buchhändler bekommen, über einen bestimmten Schlüssel, auch über Ebuch einige Prozente vom Umsatz. Na ja, so fünf bis sieben.
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Dennoch stehen hier zwei Vorstellungen vom Buchhandel gegeneinander: eine warme und eine kalte. Die warme ist die, die den Leser zum Buchhandel zurückführt wie das Bienchen in den Bienenstock. Dem folgen in der Tat die meisten deutschen Leser, und der Trend geht in diese Richtung. In dieser Vorstellung grenzt eine Onlinebestellung an Verrat.
Die kalte Vorstellung, die von Brückner, richtet sich an Leute, die gar nicht mehr wissen, was überhaupt eine Fußgängerzone ist. Oder ein Ladengeschäft. Brückners Vorstellung von der Stärkung des Buchhandels ist netzzentriert, schaut aber von drinnen nach draußen: Hier werden Buchhändler gelistet, gefeatured und mit Geld beworfen. Er hat seinem Koalabärchen kein "Fair Trade"-Schildchen umgehängt, aber genau das wird Koliro sein: ein aalglattes I-System, das dem Ein-Klick-Besteller keine soziale Leistung abfordert, aber dennoch den Unter- und den Überbau des Büchergeschäfts ins System zurückspeist.
Die Paradoxie in Brückners Idee liegt darin, dass er viele Buchhändler braucht, die überhaupt Lust haben, mit ihm zusammen in den E-Markt einzubrechen - also Profit zu machen mit einer Plattform, die den Buchhandel im Blick hat, aber eher als Folklore. Brückner will sehr wohl den Überbau: Lesermeinungen, Leser-Autoren-Kontakte, Empfehlungen von Schriftstellern, Verlinkung mit der Kritik. Was er unbedingt nicht will: asoziales Unternehmertum, bestochene und gelenkte Sternchen-"Rezensenten", die Weitergabe von Kundendaten. Nur, dass er die fest etablierten Missstände nicht den Buchkonsumenten anlastet, deren Lebensstil nicht verachtet. Er will die I-Kunden nicht umerziehen, sondern ihnen eine Alternative bieten.
Bibliografieren ist keine Kunst mehr, deshalb blüht es auch in Nischen. Die bewundernswerte Leistung, unsichtbar im Hintergrund, ist eine nahezu vollständige Deckung von Verzeichnis und Lager. Von der Ausweitung der Kampfzone dürften vor allem Verlage profitieren. Das sind in Deutschland mehrere Tausend.
Ulf Erdmann Ziegler, Schriftsteller, ist zurzeit Gast in Berlin. 2014 erschien im Suhrkamp Verlag sein Roman "Und jetzt du, Orlando!".