"Die rothaarige Frau" von Orhan Pamuk:Orhan Pamuk lehrt uns Trotz und Widerstand

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Tief versunken: Junge Muslimas mit ihren Smartphones vor der Blauen Moschee in Istanbul. (Foto: Ozan Kose/AFP)

Der neue Roman des Nobelpreisträgers ist eine Parabel auf die politische Situation in der Türkei - und beleuchtet so den uralten Konflikt zwischen Tradition und Moderne.

Von Stefan Weidner

Der Brunnen der Vergangenheit ist nicht nur tief, man kann auch hineinfallen oder hineingeworfen werden wie in einen echten Brunnen. Die Palette von Brunnenmetaphern, die Orhan Pamuk, der türkische Literaturnobelpreisträger des Jahres 2006, in seinem neuen Roman vor uns auffächert, beginnt mit der Frage des jungen Cem, "ob wir wohl recht daran taten, ins Innere der Erde zu streben statt zu den leuchtenden Sternen". Und entpuppt sich als groß angelegter erzählerischer Versuch, die Fragerichtung umzukehren, also Zweifel daran zu säen, ob wir wirklich recht damit tun, (nur) zu den leuchtenden Sternen und in die Zukunft zu streben statt ins Innere der Erde, sprich, statt die Vergangenheit mit zu bedenken.

Mit der harschen Alternative in Gestalt dieser Frage scheint nämlich auch der Gegensatz zwischen Ost und West und zwischen Tradition und Moderne erfasst, zwei Polen, die ein wenig zu ausschließlich von den Ideologen der jeweiligen Kulturkreise für sich reklamiert werden. Unter der Unvermittelbarkeit dieser Pole, ihrem Entweder-Oder leiden die Protagonisten des Buchs ebenso wie die heutige Türkei.

Ist die Politik in der Türkei das Resultat archetypischer Verhaltensmuster?

Per aspera geht es nicht nur, wie man es im Westen gern hätte, ad astra, also zu den Sternen, sondern beträchtliche Mühen musste man in seligeren Zeiten auch dafür aufwenden, wenn man in die Tiefen der Erde vordringen wollte, und sei es nur auf der Suche nach dem Urelement des Lebens. "Alles, was lebt, haben wir aus Wasser gemacht", heißt es in einem berühmten Koranvers, und aus dem Koran schöpft der Brunnenbaumeister Mahmut die Legenden, die er seinem Lehrling Cem erzählt. Der ist eigentlich ein Bücherwurm, der Sohn eines politisch links stehenden Apothekers und Aktivisten, der die Familie für die Politik und eine schöne, neue, rothaarige Geliebte vorzeitig verlassen hat, so dass Meister Mahmut, bei dem Cem ein bisschen Geld verdienen will, zum Vaterersatz werden kann.

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Den Brunnen bauen sie 1985 in Öngören, einer fiktiven Garnisonsstadt vor den Toren Istanbuls, keine fünf Kilometer von Silivri entfernt, wo am Ende des Buchs, in unserer Gegenwart, das "größte Gefängnis nicht nur der Türkei, sondern von ganz Europa'" liegt, "wie auch die Wächter und die Gefängnisleitung nicht müde wurden zu betonen." Wenn es den Brunnenbauern gelingt, Wasser zu finden, winkt ihnen eine reiche Belohnung und den Menschen von Öngören Arbeit in der Textilfabrik, die dort errichtet werden soll.

30 Jahre später ist die Textilfabrik nach Bangladesch verlegt und das Grundstück von einer Immobilienfirma aufgekauft worden. Hochwertiger Wohnraum soll entstehen, eine neue Istanbuler Vorstadt, und um für das Projekt zu werben, ist der Besitzer der Firma nach Öngören zurückgekehrt. Es ist niemand anderes als Cem, der hier von seiner tatkräftig verdrängten Vergangenheit eingeholt wird wie die Türkei heute von ihrem verdrängten islamisch-osmanischen Erbe.

Orhan Pamuk hat auch, aber keineswegs nur einen politischen Roman geschrieben. Wenn die Geschichte augenscheinlich eine Parabel ist, dann so sehr über die Grundfragen der Existenz wie über die politischen Ereignisse in der Türkei heute. Die unausgesprochene Grundthese des Romans lautet, dass die politischen Ereignisse eine Folge archetypischer Verhaltensmuster sind, die sich in der Türkei nur stärker als anderswo materialisieren und offen auf der politische Bühne ausgetragen werden.

Fast beiläufig fällt gegen Ende des Romans das Wort über "die Kurden und die oppositionellen Journalisten, die nun die Zellen füllen, in denen früher putschende Militärs gesessen hatten"; während draußen die Immobilienhaie, die einen guten Draht zur Regierungspartei haben, die nötigen Tipps über die anstehenden Baufreigaben erhalten. Korruption? Gewiss. Auf ähnlich zwielichtige Weise machen ihre Renditen auch die deutschen Geschäftsleute, von denen wir erfahren, dass sie wenige Jahre zuvor, als Griechenland vor der Staatspleite stand, zahlreich in Athen anzutreffen waren, um sich die unter Wert angebotenen Immobilien zu sichern.

Es braucht keinen Autor, um diese Entwicklung zu bewerten; die Natur selbst spricht das Urteil. Die Wasserknappheit, nicht die oppositionellen Journalisten, die Kurden oder die putschenden Generäle werden dem Größenwahn der Regierenden die Grenzen aufzeigen. Die islamistische Postmoderne der AKP, darin gelehrige Schülerin des Neoliberalismus, zehrt vom Versprechen, auch ohne aspera ad astra gelangen zu können. Das Ergebnis ist eine Mentalität der Verantwortungslosigkeit, symbolisiert durch die neusten Flüche der Ingenieurswissenschaft, Bohrmaschinen, die es möglich machen, Grundwasser aus jeder Tiefe anzuzapfen.

Aufgrund des so möglich gemachten grenzenlosen städtischen Wachstums sinkt der Wasserspiegel immer weiter. Das Streben zu den Sternen überantwortet die Erde der Dürre. Ein Beruf wie der von Brunnenbaumeister Mahmut, der seinen Schacht noch mit der Hand ausheben musste, wird ein Fall für den Nostalgiker: also den Romancier.

Die überraschende Volte dieses hochkontrollierten, sich keinen Schlenker, kein Wort zu viel gestattenden Romans liegt nun darin, dass er den Antagonismus von Tradition und Moderne, von Ost und West, als Vater-Sohn Konflikt deutet. Als der Brunnenbaumeister Mahmut seinen Gehilfen, den späteren Immobilienhai Cem, dazu auffordert, zu den gemeinsamen Abenden unter freiem Himmel eine eigene Geschichte beizutragen, fällt diesem keine andere ein als die von Ödipus - welche Meister Mahmut, er scheint zu wissen warum, ganz und gar nicht gefällt. Intuitiv ahnt er, dass ihm dabei die Rolle von Ödipus' Vater und damit die des Opfers zu Teil wird. Einige Tage später sieht Cem in einem Varieté-Theater den orientalischen Gegenentwurf zum Ödipus-Mythos aufgeführt. Er stammt aus dem "Buch der Könige" des persischen Nationaldichters Firdausi. Dort, im "Schahname", ist es der Vater, Rostam, der größte Held der persischen Mythologie, der seinen Sohn Sohrab im Zweikampf nicht erkennt und mit Hilfe einer List umbringt.

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Im Westen hingegen kann der Vater machen, was er will, der Sohn wird ihn umbringen, die Moderne obsiegen. Nach der Liebesnacht im Alkoholrausch lässt Cem den Meister, den er nach einem Unfall für tot hält, im Brunnen zurück und versucht fortan, sein Leben zu führen, als wäre nichts geschehen. Sein Verhalten ist das Sinnbild für eine alle Traditionen verachtende Moderne, die sich mit ihrem einseitigen Blick auf die Zukunft genau diese verbaut und die Vergangenheit wiederholen muss wie später Cem in seiner finalen Auseinandersetzung mit Enver am einst von Meister Mahmut gegrabenen Brunnen.

Enver, der Sohn von Cem, von dem dieser lange überhaupt nichts wusste, publiziert Gedichte in AKP-nahen Zeitschriften und erklärt seinem Vater seine orientalische Sicht: "Mit ihrem Individualismusfimmel sind unsere Eliten weder Individuen geworden noch sonst etwas Eigenständiges. Weil sie sich für etwas Besonderes halten, glauben sie nicht an Gott. Für sie ist das ein Beweis dafür, dass sie nicht sind, wie die anderen. Nur sagen sie das nicht so. Im Glauben dagegen steckt, dass man genauso ist, wie alle anderen." Beides auf einmal, den modernen Individualismus als Aufbegehren gegen den Vater und zugleich den Gehorsam gegen ihn und damit die Tradition, kann man nicht haben - und doch scheint dies genau das zu sein, was in der Türkei und vielleicht nicht nur dort von den Männern verlangt wird. Wenn aber dieser archetypische Konflikt unter Männern nicht oder nur mit Gewalt zu lösen ist, welche Rolle spielen die Frauen?

Das rote Haar steht für die Versuchung - erotisch wie auch politisch

Ebenso unweigerlich wie die Männer in die archetypischen Muster eintreten und darin gefangen bleiben, tritt Gülcihan, die titelgebende rothaarige Frau, in die Rolle der Iokaste ein, der Mutter, dann Frau des Ödipus. Sie, die Cem als Darstellerin des Varieté-Theaters in Öngören kennen lernt, ist nicht nur die Mutter von Enver, Frucht einer flüchtigen Liebesnacht mit dem halb so alten Brunnenbau-Lehrling Cem, sondern war auch die Geliebte von Cems Vater, der um ihretwillen die Familie verlassen hatte. Sie schläft überhaupt nur mit Cem, weil dieser sie an ihren ehemaligen Geliebten, den Vater, erinnert. Ihr rotes Haar steht dabei für die erotische wie für die politische Versuchung gleichermaßen. Die tragikomische Pointe lautet, dass das scheinbar unausweichliche Schicksal an nichts als diesem roten Haar hängt - das zudem noch gefärbt ist!

Wäre es nicht unglaublich leicht, einer solchen Fatalität zu entkommen? Der Leser muss dies denken; der Autor sagt es nicht. Wie Mahmut in der Tiefe der Brunnen die versteinerten Fische findet, sieht der Erzähler nur die mythische Wiederholung. Wir begreifen: Erdoğan ist der Sohn, welcher den laizistischen Staatsgründer in den Brunnen werfen möchte, Mustafa Kemal, genannt Atatürk, den "Vater der Türken", der selbst nichts anderes versuchte, als die osmanische Geschichte zu entsorgen und dem nun von dem aus dem Brunnen gestiegen Wiedergänger der Geschichte dasselbe Schicksal bereitet wird.

Der Wiederholungszwang, den Pamuk uns vor Augen hält, kann zur Verzweiflung treiben - und löst beim Leser, gleichsam homöopathisch, eine Katharsis aus, weckt die Abwehrkräfte, nämlich das eindringliche Bedürfnis, gegen die schicksalhafte Verdammnis ein für allemal zu rebellieren. Die Parabel vom Brunnenbauer und der rothaarigen Frau, so eingängig und konventionell sie uns erzählt wird, lehrt das Aufbegehren und den Trotz, lehrt uns den Widerstand gegen die scheinbare Unausweichlichkeit und macht uns damit frei, im Bewusstsein von Zukunft und Vergangenheit, Himmel und Erde, Tradition und Moderne gleichermaßen die Verantwortung für unser Schicksal zu übernehmen.

© SZ vom 23.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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