Das "Café Einfall" öffnet eigentlich erst um 18 Uhr. Aber am Morgen muss es durchgewischt werden, und die Klos brauchen auch eine summarische Reinigung. Also steht die Tür offen. Draußen liegt die Wiener Straße, hinterm Görli, dem heute so beliebten Drogenbrennpunkt. Doch wir sind im November 1980, da warnt der Kontaktpolizist zwar schon vor Junkies - Drogen in der Kneipe, das wäre ein Grund, sie zu schließen, nehmt also besser Kaffeelöffel mit kleinem Loch, damit niemand auf falsche Gedanken kommt. Aber noch ist man weit entfernt vom mafiagesteuerten Großhandel, der heute die Szene beherrscht.
Eher bräuchte man einen Kaffee am Morgen, darum fragt alle paar Minuten jemand in die geöffnete Tür des "Einfall" hinein, ob schon offen ist. Nein, wir machen nur sauber. Geduldig muss dies immer wieder Frank Lehmann erklären, der Gute. Er wischt ganz gern, diese Tätigkeit ist stressarm und betrachtsam. Natürlich kennen wir Herrn Lehmann längst, aber das ist gar nicht so wichtig.
Der Wirt, dem Lehmann Lohn gibt, Herr Kächele aus dem Schwabenland, hat eine Nichte namens Chrissie, die den vielen Anfragen die Marktlücke ablauscht: Wie wäre es mit einer Morgenöffnung des "Einfall"? Könnte man gar Kuchen zum Kaffee anbieten, zwei Mark das Stück? Bräuchte man dafür nicht eine zusätzliche Tresenkraft, die dann "Geld wie Heu" machen könnte? Und wäre Chrissie nicht die berufene Person dafür? Dann könnte sie ihrem Onkel auch die Miete bezahlen, denn bei Erwin Kächele hat Chrissie ihr Zimmer.
So geschieht es in Sven Regeners jüngster Erzählung aus dem alten Kreuzberg, die noch einmal seine seit "Herr Lehmann" (2001) bekannte Romanfamilie versammelt: Lehmann, Karl Schmidt, Kächele, den Chauffeur und Ossi Marko, Künstler wie H. R. Ledigt oder P. Immel, Leute, die Berlins liebenswürdige Schwäche für Wortspiele im Namen tragen. Und diese Erweiterung des Geschäftsmodells des Einfalls ist schon der erheblichste Handlungsstrang von "Wiener Straße".
Auch die Schauplätze bleiben ganz bei sich: Links und rechts des "Einfalls" liegen einerseits die "ArschArt Galerie" und andererseits ein Intimfriseur, der aber auch eher in die Gastronomie tendiert. Die "ArschArt" hat Größeres vor, sie will sich bei einer vom Bezirk geförderten Kunstausstellung mit Installation und Performance beteiligen (nächster Handlungsstrang). Außerdem simuliert sie das Rollenmuster "Besetztes Haus" für einen ZDF-Journalisten, der mit SFB-Mitteln darüber eine Reportage dreht, die genau da schwebt, wo seinerzeit ganz Berlin und heute noch Sven Regeners Romane leben: an der Schwelle von Kunst und Leben.
Man muss ein paar Punks anheuern für die Deko vom selbstbestimmten Leben in der Ruine, andererseits ein paar Mitarbeiter der Galerie in Bauklamotten werfen, wegen des Aspekts "Instandbesetzung". Gut, dass der ZDF-Mann ein Österreicher ist wie der recht autoritäre Herr P. Immel, die haben bekanntlich viel Sinn für Aktionskunst. Der Dreh gelingt (dritter Handlungsstrang). Kurz nach ihrem Debüt haben es Regeners Romanfiguren 2003 sogar ins Kino geschafft.
Auch die Ausstellungseröffnung wird ein Erfolg. Der Wein aus den Schraubverschlussflaschen ist zu warm, aber das macht Lehmann als Verkäufer durch Charme wett (den klasse schwachen Berliner Witz "Ick koof bei Lehmann" lassen wir mal). Auch ein Polizist, der eigentlich die Fällung eines Baums für die Installation (H.R. Ledigt fuchtelt gern mit einer Kettensäge herum) ahnden müsste, kann beruhigt werden. Ende gut, alles gut, auch weil Kächeles über die Zonengrenze angereiste Schwester die eher kläglichen Backversuche von Chrissie mit überlegener schwäbischer Apfelkuchenexpertise ausgleicht und die Morgenöffnung des "Einfalls" zum Erfolg macht.
Ein Heimatroman also. Nichts Weltbewegendes, außer der alten Zeit, an die ältere Leser sich noch gern erinnern. Das alte West-Berlin! Das alte Kreuzberg! Mauernah und still vor sich hinwuselnd, unendlich gemächlich, noch gänzlich unsmart. Kann man sich kaum vorstellen heute, dieses Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben, das Hoppen von Tresenjob zu Putzjob zu Taxi-Job, zu Kunst und Projekt, mit Staatsknete und Gemeineigentum von Bröckelimmobilien. Berliner Ökonomie, prä-neoliberal, dafür libertär. Konflikte gab's am ehesten, wenn die Freundin schwanger wurde und die Männer zur Gymnastik mitmussten. Kächele läuft einen ganzen Tag mit einem Schwangerschaftsimulator um den Leib gebunden herum.
Heimatliteratur: Da spielt, was passiert, keine allzugroße Rolle. Man liebt die Menschen, aber vor allem, ihre Art zu reden. Eigentlich ist "Wiener Straße" ein Soundtrack des endlosen Berliner Redens, des Zeitschindens mit Reden, des Sich-Beschnüffelns mit Gerede, des Redens, das wissen lässt: Noch der kleinste Handwerkertermin bleibt Verhandlungssache, und auch die Frau an der Kasse muss erst mal jarnüscht, und wenn die Schlange noch so lang ist. Sar'ick ma. - "Sar'ick ma", das sagen die Leute hier ununterbrochen, aber hallo. Kommt ein Handwerker, um die Kaffeemaschine des "Einfalls" zu reparieren - er kommt im vollen Bewusstsein seiner Unersetzlichkeit, wer kennt schon alte Kaffeemaschinen mit Dampf für Milchschaum und so? -, dann wird erst einmal ausgiebig geredet: "Dit is dit jute Stück, oda? Isset doch, oda?""Aba hallo! Sieht man nicht mehr oft. Ist mindestens dreißig Jahre alt, jibtet eintlé jané mehr."
Irgendwann werden die Leute aussterben, die noch wissen, dass das "Café Einfall" in Wirklichkeit das "Madonna" ist, dass die Wiener Straße erschreckend nah an der Mauer lag, dass ganz West-Berlin subventioniert war und in herrlicher Faulheit in den Tag hinein lebte.
Aber dann wird man immer noch mit Freude und Lust dem Gerede dieser Leute zuhören, dem Reden um des Redens willen. Das kennt die deutsche Literatur durchaus, wenn auch selten - man darf, dabei den Kopf tief in den Nacken legend, um nach oben zu schauen, an Autoren wie Wilhelm Raabe oder Eckhard Henscheid denken. Sven Regener ist ihr nicht unwürdiger kleiner Neffe.