Märchen sind grausam. Man denke nur an die Story von Hänsel und Gretel: ausgesetzt im Wald, dem Verhungern und wilden Tieren ausgeliefert, versklavt und fast kannibalisiert im Hexenhaus, muss Gretel schließlich eine alte Frau in einen glühenden Ofen schieben, um sich und ihren Bruder zu retten.
Wenn Florence Miaihe also eine Fluchtgeschichte wie ein Märchen erzählt, dann ist das keineswegs harmlos. Schattenmänner in Uniform brennen ein Dorf ab und quälen seine Bewohner. Zwei Geschwister, Kyona und Adriel, fliehen mit ihren Eltern, und weil diese verhaftet werden, sind die Kinder bald allein. Sie durchqueren ein fiktives Land, vielleicht sogar einen Kontinent wie einen finsteren, bösen Wald, begegnen Unholden, einer geheimnisvollen Baba Yaga und werden "wie Welpen" an ein reiches Ehepaar verkauft, um - ja, was eigentlich? Als perfekt zugerichtete Ersatzkinder "geliebt" zu werden? Oder als Kindersklaven ausgebeutet und sexuell missbraucht? Der Film deutet solche Gräuel nur an, schließlich ist er auch für ein jugendliches Publikum gedacht.
Florence Miaihe erzählt die Geschichte in animierten Ölbildern, die wunderschön sind, eigenwillig und kostbar. Gischt schäumt mit wildem weißen Pinselstrich auf nächtlichem Blau, als die Kinder in einem winzigen Boot ein Meer überqueren. Das Gefieder von Papageien explodiert zu einem Farbenrausch, als Kyona eine Voliere öffnet und die Vögel in die Freiheit fliegen. Graue Schleier verdecken als Rauch die Bilder, wenn ein Dorf brennt und Uniformierte Menschen drangsalieren.
"Die Animation wird Bild für Bild auf mehreren Glasschichten direkt unter der Kamera ausgeführt", erklärt Florence Miaihe ihre aufwendige Animationstechnik. "Dieses System ist so aufgebaut, dass so weit wie möglich alles zur gleichen Zeit und von der gleichen Person gemacht wird: die Figuren, das Set, die Effekte, die Farbe. So kann das Bild jederzeit in seiner Gesamtheit konzipiert werden. Für Animatorinnen und Animatoren fühlt es sich an, als würden sie ein Gemälde zum Leben erwecken."
Wie Kapitel folgen die Stationen der Flucht aufeinander: ein Leben auf der Straße, Stehlen und Müllsammeln, die lebensgefährliche Überfahrt über das Meer, die "Ersatzeltern", am Ende die Verhaftung und Internierung in einem Camp, dessen katastrophale Bedingungen an reale Flüchtlingslager wie Moria erinnern. Kyona und Adriel erleben aber auch Freundschaft und unerwartete Hilfe. Und die Farben, mit breitem Pinsel aufgetragen, sind nicht nur buchstäbliche Lichtblicke, sondern werden regelrecht zu Verbündeten, wenn sich etwa die befreiten Papageien als wilde Farbkleckse auf Verfolger der Kinder stürzen.
Das alles erzählt die erwachsene Kyona anhand ihres Skizzenbuches, das sie bei ihrer Flucht immer mit sich führt, in der deutschen Fasssung des Films wird Kyona von Hanna Schygulla gesprochen. Die Vorlagen für ihre Skizzen stammen aus dem Block von Mireille Miailhe, der Mutter der Regisseurin, aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Wie die Heldin des Films zeichnete sie ständig ihre Familie, ihre Freunde, Szenen aus dem täglichen Leben. "Meine Familiengeschichte ist selbst eine der Migration", erklärt Florence Miaihe. "Wie Tausende andere verließen meine Urgroßeltern zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Heimat Odessa, auf der Flucht vor antisemitischen Pogromen."
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In Frankreich fanden sie eine neue Heimat. Zu Beginn des Films ist das Atelier der erwachsenen Kyona zu sehen. Ein gezeichnetes Fenster führt von dort in eine gemalte Landschaft, durch die ein tricktechnisch bewegter Vogel fliegt. So wird der Zuschauer in die animierte Welt - und in die Abstraktion - gezogen. Die poetische Erzählweise hält die Höllenfahrt ein bisschen auf Distanz, sie wäre sonst noch schwerer auszuhalten.
Die Idee zu "Die Odyssee" hatte Florence Miaihe schon in den Nullerjahren, als immer mehr Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten kamen und an den Stränden von Malta oder Lampedusa landeten. Bei der Gestaltung ihres Films habe sie sich dann stark von Fotografien von Flüchtlingen, Lagern und Plünderungen insprieren lassen, viele aus der Agentur Magnum, für die ihr Mann Patrick Zachmann als Fotograf arbeitet. Der Mix aus Märchen und Reportage macht diese Geschichte zweier unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge zu einer so aktuell-realistischen wie zeitlos-universellen Geschichte. Hänsel und Gretel fliehen heute vor dem Ukraine-Krieg.
La Traverseé , Frankreich/D/Tschechische Republik 2021 - Regie: Florence Miailhe. Buch: Marie Desplechin, F. Miailhe. Sprecher in der deutschen Fassung: Hanna Schygulla, Derya Flechtner, Max Asmus, Nicolas Rathod, Viktor Neumann, Moritz Gottwald. Verleih: Grandfilm, 84 Minuten. Kinostart: 28.4.2022