Zu Beginn des zweiten Aktes gab es lautstarke Bravi für den Dirigenten Kirill Petrenko, den neuen Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. Es wurde ein gelungener, denkwürdiger Einstand des 41-jährigen russischen Pultstars, der zur Zeit weltweit gefragt ist. Die Wahl von "Die Frau ohne Schatten" von Richard Strauss sollte einen Bezug herstellen zur Wiedereröffnung des Nationaltheaters vor 50 Jahren mit eben dieser Oper. Im Vorfeld schwärmten ältere Operngänger, die damals dabei waren, von der grandiosen Aufführung und der unvergleichlichen Besetzung, sodass man annehmen musste, dieses Niveau könne niemals wieder erreicht werden. Was man dann aber am Premierenabend in München erlebte, war eine musikalisch und inszenatorisch durchweg gelungene Produktion.
Gleich am Anfang erwartet den Besucher eine Überraschung. Regisseur Krzysztof Warlikowski projizierte über die gesamte Bühne einen 10-minütigen Ausschnitt aus Alain Resnais' Psychofantasie "Letztes Jahr in Marienbad", gedreht 1961 in Münchner Schlössern. Warlikowski hat die filmische Szenerie, die ohnehin schon zwischen Realität und Fiktion schwankt, durch den neuen Kontext abermals gebrochen und stimmt den Zuschauer sehr gezielt darauf ein, sich während der folgenden vier Stunden in diesem Schwebezustand von halbrealistischem Wachtraum und Märchenwelt zu bewegen. Denn die Geschichte von Strauss´ "Die Frau ohne Schatten" ist ebenso wenig als stringenter Plot greifbar.
Märchenkaiser eines Märchenreiches
Dirigent Petrenko beendet den Filmausschnitt mit einem Orchesterschlag. Wie stapfende Riesen poltern die eröffnenden Orchesterakkorde in die problematische Idylle; sie beschließen das falsche Filmleben und eröffnen eine noch komplexere, verschrobenere Märchen-Menschenwelt. Ein Märchenkaiser eines Märchenreiches, verheiratet mit der Tochter eines Geisterkönigs, die sich ursprünglich in Tiere verwandeln konnte. So hat sie sich der Kaiser, auch mithilfe seines Lieblinsfalken, einst als weiße Gazelle erjagt.
Nun aber ist sie entzaubert und, was noch schlimmer ist: Sie wirft keinen Schatten, was bedeutet, sie kann keine Kinder bekommen. Dieses Schicksal teilt die Kaiserin mit der Frau des fleißigen Färbers Barak, der sich für seine Frau und drei Brüder abrackert und gerne noch mehr arbeiten würde für eine Kinderschar. Just als ihn seine Frau betrügen will, kommt er mit einem ganzen Rudel von Kindern nach Hause, die er zum Essen eingeladen hat. Die Frau aber ist verzweifelt und macht ihrem gutmütigen Mann das Leben zur Hölle, schlägt ihn am Ende gar.
Richard Strauss, der mit seiner eigenen Ehefrau ja ein durchaus zwiespältiges Verhältnis unterhielt, greift hier ein Tabu auf, das bis heute gilt. Er teilt die Welt nicht in gute Frauen und böse Männer, sondern versucht, den Umgang der Menschen untereinander ein bisschen differenzierter darzustellen. Und auch wenn die Nähe zu Mozarts "Zauberflöte" immer wieder herbeigeredet wird - was Strauss und Librettist Hugo von Hofmannsthal hier nach langem Hin und Her untereinander schließlich auf die Bühne brachten, das ist sehr weit weg von Mozarts und Schikaneders Märchenidylle. Strauss und Hofmannsthal schreiben entschieden für Erwachsene, und Regisseur Warlikowski inszeniert, bei aller bunten Bildervielfalt und Hundertschaften von Kinderstatisten, ebenfalls für Opernbesucher, die sich nicht von jedem erotischen Handgriff auf der Bühne ablenken lassen von der mehrschichtig aufbereiteten Thematik. Denn die ist ebenso bizarr wie brutal.
50 Jahre Nationaltheater:Schwelgen im Musentempel
Schutt und Asche. Mehr war nach dem Krieg nicht übrig geblieben vom Nationaltheater, auch die Ruine sollte weg. Doch die Münchner wehrten und engagierten sich - mit Erfolg. 50 Jahre Bayerische Staatsoper in Bildern.
Eine Figur wie die menschenhassende, mephisophelisch intrigante Amme, findet man auf der Opernbühne kein zweites Mal. Es ist im Grunde ein überdimensionales Gefühlsdrama um die menschliche Existenz, das in aller Schärfe gezeichnet, manchmal auch überzeichnet ist. Die Musik wirkt da, zumindest für heutige Ohren, zum Teil geradezu versöhnlich milde. Besonders im ersten Akt changiert sie wunderbar zwischen aufbrechender Moderne, expressionistischer Geste und sanft-konventioneller Harmonik. Dabei entstehen typische Strauss-Effekte, wenn die Gesangsstimme aus höchster Höhe und schwierigsten Sprüngen plötzlich ganz vertraut in den Orchesterklang eingebettet erscheint, der sich gleichsam um die Stimme herum bewegt.
Petrenko setzt von Anfang an auf extreme Klarheit, und trotzdem kann er sich diesen Effekten nicht vollständig entziehen. Auch das andere Extrem, das große Auftrumpfen des Riesenorchesters, scheint ihm suspekt, er fokussiert solche Passagen gerne auf ein, zwei Attacca-Akkorde, lässt die folgenden etwas leiser spielen. Insofern zieht er die Musik ein bisschen weg von allzu theaterhaftem Auftritt, von Schwulst und süffigem Klang sowieso, kann aber auch hier nicht die reine neue Sachlichkeit installieren, wo satter Ausdruck alles ist. Wofür man ihm allerdings wirklich persönlich dankbar sein muss: Dass er die Musiker des Bayerischen Staatsorchester zu solcher Präzision motiviert hat. Gerade die Partituren von Richard Strauss sind oft mühsam schwierig für die meisten Orchesterstimmen, und Strauss selber stritt sich in den 40er Jahren oft genug mit Musikern auch dieses Orchesters um einigermaßen saubere Aufführungen. Mit der Partitur seiner "Frau ohne Schatten" haderte er selber in allerhand Details, nannte sie sein Sorgenkind.
Petrenko packt frisch an
Davon war in der Münchner Aufführung zumindest musikalisch kaum etwas zu spüren. Was aber nicht nur am ausgezeichnet disponierten Orchester und dem frisch anpackenden Petrenko lag, sondern auch an einem ausgezeichnetetn Solistenensembel, insbesondere der virtuos stimmkräftigen Charaktersängerin Elena Pankratova als Färberin und Wolfgang Koch als dunkelherb durchdringender Färber Barak. Johan Botha dagegen hatte als Kaiser durchaus auch problematische Stellen, wirkte unangenehm eng in der Höhe, während Adrianne Pieczonka als Kaiserin keinerlei Mühe mit ihrer Partie hatte. Fast ein wenig zu gutmütig wirkte Deborah Polaski als böse Amme, auch wenn sie persönlich und stimmlich große Lebenserfahrung ausstrahlte. Auch wenn in den Melodien und Orchesterklängen von Strauss beinahe jede Figur über nahezu archaisch reicher Erfahrung zu zehren scheint.
Aber nicht nur Dirigent Petrenko, sondern auch Regisseur Warlikowski relativiert solcherlei Tendenzen konsequent. Er stellt nicht einfach nur Bildbezüge zur Gegenwart her, sondern schafft eine eigene Wachtraumwelt, in der mittels holografischer Technik mal Zauberwälder durch den Raum fliegen, mal etwas verwackelt Sturzfluten sich ergießen, Seitenwände und Brandmauer mit Projektionen bespielt werden und ganz unten im Bühnenparterre das kleinbürgerliche Färberehepaar, die grobschlächtigen Brüder und die zugewanderte Kaiserfamilie incognito ihr selbst verursachtes Lebensleiden absolvieren. Das ist nur zur Hälfte tragisch, zur anderen aber absurd und theatermäßig grotesk.
Die Kaiserin wird Mensch
Warlikowski scheint die daraus entstehtenden Szenerien geradezu zu genießen. Der Jüngling, der die zänkische alte Färberin auf Initiative der Amme hin verführen soll, präsentiert nicht nur seinen Waschbrettbauch, sondern zieht sich tatsächlich bis auf die Unterhose aus und legt sich zu ihr ins Bett. Aber die "alte Vettel", wie sie sich selber nennt, hat ihre Frustrationen schon so perfekt kultiviert, dass sie dieser Verlockung nicht nachgeben kann. Sie redet sich ein, dass sie ihrem Mann treu sein will, den sie doch so verachtet und erniedrigt - tatsächlich aber müsste sie ihr ganzes Denken und Tun umkrempeln, wenn sie sich auf dieses kurze sexuelle Glück einließe.
Das Happy End ist so herrlich erbärmlich wie das wahre Leben: Die Kaiserin ist Mensch geworden, um Kinder zu bekommen, und am Ende klappts auch. Kaiser- und Färberpaar sitzen mit Kindern am Tisch und feiern ihr Menschsein. Grundlos, aber lautstark. An den Seitenwänden überlebensgroß flackernde Bilder unserer alltäglichen Konsumkitschmärchenwelt: Marilyn Monroe, King Kong, Ghandi, Buddha, Superman.