"Der ewige Faschismus":Trost kleiner Bücher

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Vor 25 Jahren hielt Umberto Eco einen Vortrag über den "ewigen Faschismus". Hilft seine Analyse, die Gegenwart besser zu verstehen?

Von Thomas Steinfeld

Im Frühjahr 1995 hielt Umberto Eco einen Vortrag an der Columbia University in New York, dem er den Titel "Der ewige Faschismus" gegeben hatte. Er war das zentrale Ereignis einer Konferenz, die das italienische Seminar der Hochschule zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung Europas "von Nationalsozialismus und Faschismus" veranstaltete. Umberto Eco betrieb in dieser Rede eine Begriffsklärung. Zunächst versuchte er, den Faschismus von allen Assoziationen zu befreien, mit denen er immer wieder verbunden wird, die aber nicht notwendig zu ihm gehören: Das gilt für den Nationalsozialismus und dessen Programm der Judenvernichtung ebenso wie für die katholische Bewegung des Generals Franco oder für den radikalen Antikapitalismus des Dichters Ezra Pound. Sodann entwarf er, in vierzehn Punkten, eine Bestimmung des Faschismus in seiner reinen Form. Dazu gehören, wie er meinte, ein "Kult der Überlieferung" und die Ablehnung der Moderne oder der Kritik, ein "Appell an die frustrierten Mittelklassen" und die Fremdenfeindlichkeit, der Glaube an das Leben als Kampf und die Verachtung der parlamentarischen Demokratie. Weil aber auch für jedes dieser Kriterien gilt, dass die Bestimmung auch auf Nicht-Faschistisches zutrifft - einem Kult der Überlieferung hängen auch manche Bibelforscher an, und etliche Monarchisten verachten ebenfalls den Parlamentarismus -, ist Ecos Begriff des Faschismus eine etwas diffuse Angelegenheit. Der Faschismus, so wie er ihn sich vorstellt, bildet eine Art dunkler Energie auf dem Grund aller modernen Gesellschaften, deren Hervortreten an eine "Kristallisation" gebunden sein soll.

Der Titel klingt gegenwärtig wie eine prophetische Wortmeldung von großer Aktualität

Umberto Ecos Vortrag wurde, als separate Veröffentlichung, vor zwei Jahren in Italien neu herausgegeben, in einer schmalen Broschur und für einen geringen Preis. Jetzt hat der deutsche Verlag nachgezogen und bietet den Text, verknüpft mit vier weiteren ehemaligen Gelegenheitsarbeiten Umberto Ecos und einem Vorwort Roberto Savianos, als Büchlein mit einem Umfang von achtzig knappen Seiten an. Der Titel, eben "Der ewige Faschismus", mochte sich vor 25 Jahren auch auf eine aktuelle Erfahrung bezogen haben: Die "Alleanza Nationale" kam bei den italienischen Parlamentswahlen 1996 auf fast sechzehn Prozent der Stimmen, ein Bündnis, zu dem neben Rechtskonservativen sowie Monarchisten auch etliche späte Anhänger Mussolinis gehörten. Seitdem hat sich die politische Lage sehr geändert: Der Verdacht, einen neuen Faschismus vorantreiben zu wollen, richtet sich nunmehr zuerst gegen die Ausländerfeinde von der rechtspopulistischen "Lega", deren Stimmenanteil gegenwärtig bei knapp dreißig Prozent liegen dürfte. Und weil es solche Bewegungen heute in allen europäischen Ländern wie auch in den Vereinigten Staaten gibt, klingt der Titel der Schrift unter gegenwärtigen Bedingungen anders: wie eine prophetische Wortmeldung von großer Aktualität.

Umberto Ecos Vortrag, schreibt Roberto Saviano in seinem Vorwort, sei "eine Fackel, die es schafft, diesen endlosen Niedergang zu beleuchten, den Europa gerade erlebt: den Hass, den die krisengeschüttelte Mittelschicht auf all diejenigen entwickelt, die sie ersetzen könnten, also jetzt auch die Immigranten."

In jüngster Zeit ist eine Reihe kleiner Schriften berühmter Gelehrter und Dichter auf den Markt gebracht worden, allesamt mit dem Anspruch, in der Vergangenheit habe es bedeutende Entwürfe zur Klärung der gegenwärtigen Lage gegeben, die zu Unrecht wenig beachtet oder vergessen wurden: Dazu gehören Hannah Arendts "Die Freiheit, frei zu sein" (2018) ebenso wie Theodor W. Adornos "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" (2019). Aber was bedeutet es für die Gegenwart, dass sie irgendwann in der Vergangenheit schon soll mitgedacht worden sein? Dass es damals bessere Denker gab? Dass man sich in guter Gesellschaft befindet, wenn man sich heute für die Freiheit und gegen den Rechtsradikalismus engagiert? Oder sind die kleinen Bücher als Trost gedacht?

Wenn es so vermögenden Köpfen nicht gelang, die Welt mit ihren Gedanken zu verändern: Warum sollten wir es dann schaffen? Oder kalkulieren die Verlage mit dem Bedürfnis flüchtiger Leser, in handlichen Formaten und interessanten Gegenständen am Werk eines großen Denkers teilhaben zu dürfen? Intellektueller Heldenkult und zeitdiagnostische Hilflosigkeit scheinen in diesen Schriften eine nicht unbedingt glückliche Verbindung einzugehen.

Es sei ein großer Fehler, schreibt Roberto Saviano in seinem Vorwort, den Faschismus als ein nur historisches Phänomen zu beschreiben. Das mag so sein. Ein großer Fehler ist es hingegen mit Sicherheit auch, den Faschismus als nur zeitübergreifendes Phänomen zu betrachten, als Konstante, die sich durch alle modernen Gesellschaften zieht. Keinen Faschismus gibt es bisher, der nicht aus einer Demokratie hervorgegangen, keinen Faschismus, dem keine Wirtschaftskrise vorausgegangen, keinen Faschismus, der nicht die Nation vor ihren ausländischen Feinden hätte retten wollen, zu Zeiten und unter Umständen, die sich jeweils angeben lassen. Die Kategorie des "ewigen Faschismus" verwischt solche Unterscheidungen, im selben Maße, wie sie den Faschismus von der Demokratie allzu scharf trennt. Denn zeigt nicht gerade ein radikaler Nationalismus, wie ihn gegenwärtig der ehemalige italienische Innenminister Matteo Salvini und die "Lega" vertreten, wie durchlässig die Grenzen zwischen Demokratie und Faschismus sein können? Einschließlich Missachtung der Gewaltenteilung innerhalb der Gewaltenteilung, Verachtung des Parlamentarismus innerhalb des Parlamentarismus und einem bedingungslosen Einsatz für Volk und Vaterland, an dem es ansonsten auch Demokraten nicht fehlen lassen? Es könnte sein, dass man solchermaßen komplizierten Verhältnissen mit einem Kriterienkatalog in vierzehn Punkten nicht wirklich beikommt.

Umberto Eco: Der ewige Faschismus. Aus dem Italienischen übersetzt von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, München 2020. 80 Seiten, 10 Euro.

© SZ vom 08.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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