"Der Duft der Imperien":Das Chanel No 5 des Stalinismus

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Das rote Moskau, das bürgerliche Paris: Karl Schlögel folgt in seinem neuen Buch den Wegen der Parfümeure durch das Zeitalter der Extreme.

Von Stephan Wackwitz

Karl Schlögel: Der Duft der Imperien. „Chanel No 5“ und „Rotes Moskau“. Hanser Verlag, München 2020. 224 Seiten, 23 Euro. (Foto: N/A)

Karl Schlögel, hierin ein Schüler Walter Benjamins, unternimmt es, in seinen Büchern das Abstrakte im Konkreten lesbar zu machen - historische und soziologische Strukturen in Architekturen, Interieurs, Alltagsgegenständen. Mit Reiseessays über die plötzlich wieder zugänglichen Städte, Landschaften und die soziologischen Revolutionen des Ostens ist er nach 1989 bekannt geworden. In seinem letzten großen Buch "Das sowjetische Jahrhundert (2017) beschäftigt er sich mit paradigmatischen Gegenständen der untergegangenen sowjetischen Alltagskultur. Einem Archäologen gleich gelingt es diesem Schriftsteller immer wieder, aus den unscheinbarsten Spuren zwanglos und einleuchtend die maßgebenden Tendenzen ganzer Zeitalter zu rekonstruieren.

Sein neues Buch - "Der Duft der Imperien" - ist eine Art Auskoppelung aus jener monumentalen sowjetischen Kulturgeschichte von 2018. Schlögel treibt hier die historiografische Konkretion bis ins Olfaktorische hinein, in den Zuständigkeitsbereich des Paleocortex. Das Reich der Gerüche und des Schmeckens, man weiß es, bewahrt die lebendigsten, prägnantesten - die sozusagen unwiderleglichen - Erinnerungen einer Person (und einer Gesellschaft) auf. Die Duftwolken des Parfüms "Krasnaja Moskwa" auf den Empfängen und Diners der sowjetischen Nomenklatura sind für Schlögel, was die in Lindenblütentee getauchte Madelaine für Proust gewesen ist. Sein Buch geht der Entstehung dieses Dufts durch die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Konstellationen des Stalinismus und "Neuen Ökonomischen Politik" hindurch bis in die Lebensläufe, Rezepturen und Kulturatmosphären der beau monde des späten Zarenreichs nach. Die war eng mit der Mode- und Kunstszene von Paris verbunden, wo der russisch-französische Parfümeur Ernest Beaux mit "Bouquet de Catherine" den definitiven vorrevolutionären Duft geschaffen hatte. 1921, inzwischen in Paris, komponierte er für Coco Chanel das bis heute legendäre "Chanel No 5". Beaux' Parfüms waren die ersten auf rein chemischer Basis, ohne Beimischung natürlicher Essenzen - bei aller Kostbarkeit auf die Produktionsverhältnisse des Industriezeitalters zugeschnitten.

Der Aufschwung der sowjetischen Parfümindustrie fällt in die Dreißigerjahre, in jene paradoxe Konsolidierungsphase der UdSSR zwischen "Terror und Traum" (wie ein anderes Buch Schlögels heißt). Mit dem Abschluss des ersten Fünfjahresplans waren die Grundlagen der Schwerindustrie gelegt. Die Zerstörung der traditionellen bäuerlichen Lebenswelt war mit der "Kollektivierung" und den kollateralen Völkermorden durch Hunger zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. "Das Leben ist schöner geworden, Genossen, das Leben ist fröhlicher geworden", verkündete Stalin 1935. Gleichzeitig war der fatale "Parteitag der Sieger" 1934 der Beginn eines Terrors gegen die eigene Partei, der 1937/38 kulminieren sollte. Es entstand in jenen Jahren aus jungen Ingenieuren, Wissenschaftlern, Staatskünstlern und Berufspolitikern ohne Verbindung zur eingeschüchterten und bedrohten alten Garde eine "neue Klasse", die auf ihren Theatersoiréen, Empfängen, Tanztees, Salons und Diners einen postrevolutionären Bedarf des Luxus und der Moden erzeugte. Ein Highlight von Schlögels Buch ist die biografische Parallelführung des Lebens von Coco Chanel mit dem einer der interessantesten, widersprüchlichsten und tragischsten Figuren des sowjetischen Führungskreises: Polina Schemtschuschina-Molotow. Die Frau des Außenministers, Grande Dame und eine Stilikone des Stalinismus, war von 1932 bis 1936 Chefin der sowjetischen Kosmetikindustrie. "Krasnaja Moskwa", das östliche Pendant zu "Chanel No 5", ist mittelbar ihre Schöpfung. Die Lebensläufe Polinas und Coco Chanels wirken wie die von antipodischen Zwillingsschwestern, die es an die beiden Pole des "Zeitalters der Extreme" verschlagen hat.

Schlögels Buch ist randvoll mit den erstaunlichen kulturhistorischen Beobachtungen und Materialien, die aus einer geduldigen Anschauung und Kontextualisierung scheinbar abseitiger Gegenstände gewonnen werden können. Er macht die Parallelen zwischen Chanels "kleinem Schwarzen" und den Entwürfen der gleichzeitigen sowjetischen Modeindustrie sichtbar. Oder die enge Verschränkung der Pariser Anregungen in Kunst, Mode und Luxusproduktion mit der russischen und sowjetischen Kultur von der Zarenzeit bis weit in den Stalinismus hinein. Oder die Parallelen zwischen der Kosmetikwissenschaft, welche die Schauspielerin (und diplomierte Kosmetikerin) Olga Tschechowa popularisierte, mit der Lebensverlängerungswissenschaft des ukrainischen Mediziners Alexander Bogomoletz.

Schlögel hat sogar wiederentdeckt, dass ausgerechnet der Suprematist Kasimir Malewitsch in seiner voravantgardistischen Phase einen Flakon für das Eau de Cologne "Sewerny" (Nord) entworfen hat (es zeigt einen stilisierten Eisbären, der auf dem Glaspfropfen über dem als Eisberg gestalteten Fläschchen balanciert). "Der Duft der Imperien" ist ein neuer Beweis für die Fruchtbarkeit jenes an Benjamin geschulten Blicks, mit dem Karl Schlögel in unauffälligen Details mit scheinbar müheloser Plausibilität das Ganze der Gesellschaft sichtbar zu machen vermag.

© SZ vom 10.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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