Theater:So bedrohlich wie eine Kfz-Zulassungsstelle

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Fast alle sind hier K. - kleine Tierchen im Hochhauslabyrinth. (Foto: Lalo Jodlbauer)

Zu Beginn des Kafka-Jahrs inszeniert Karin Henkel "Das Schloss" am Münchner Residenztheater. Oder zumindest eine Ahnung davon.

Von Egbert Tholl

Im Juni vor hundert Jahren starb Franz Kafka, also ist 2024 Kafka-Jahr, das merkt man auch im Theater. Am Residenztheater in München nimmt sich Karin Henkel gleich mal Franz Kafkas dicksten Roman vor, "Das Schloss", und bringt ihn mit Macht auf die Bühne. Wenn man nun Angst hatte, in diesem Jahr viele düstere, ausweglose, nachtschwarze und bohrend existenzialistische Aufführungen vorgesetzt zu bekommen, dann kann man nach Henkels Premiere erst einmal beruhigt sein. Natürlich geht's hier auch dystopisch zu, aber sonderlich schmerzhaft ist es nicht.

Die Kostüme von Katrin Wolfermann kleiden eine Gesellschaft in nicht allzu ferner Zukunft in Grau, Pink und Weiß, das schaut schick aus, und die Bühne von Thilo Reuther ist eine Schau. Sie bewegt sich ständig, wirkt wie ein kubistischer Organismus. In der Grundstruktur steht auf der Mitte der Bühne ein Würfel, von dessen Kanten gehen vier Wände weg, düster, dunkel, schwarz; mal denkt man an einen Bunker, mal an ein Bürohochhaus. Es gibt Aufzüge und Feldbetten, manchmal einen Himmel voller Neonröhren, viele Empfangstresen, ganz hinten in der Tiefe der Bühne flattert ein Prospekt mit darauf gemalten Hochhäusern, in einem Fenster brennt Licht. In diesem fraglos tollen Setting könnte man einige Stoffe unterbringen, hier nun laufen zahlreiche Versionen, männlich und weiblich, von K. gegen die Bühne an, schlüpfen durch sich drehende Wände hindurch, lösen einander dabei wie durch Zauberei ab - das Gewusel auf der Bühne hat durchaus zirzensische Qualitäten.

Hat die Regisseurin den Roman nach einem Drittel weggelegt?

Von vorn: In Kafkas Roman kommt K. spätabends in ein Dorf, das am Hügel eines Schlosses klebt, er soll dort eine Stelle als Landvermesser antreten. Er trifft auf nicht sonderlich freundliche Dorfbewohner, bald auf einige Vertreter der offenbar vom Schloss aus gesteuerten Bürokratie, niemand weiß von seiner Anstellung. Die vielen Vertreter der Vertreter der Kastellane oder Gemeindevorsteher haben alle nichts zu entscheiden, die oberen Etagen der Hierarchie scheinen so rätselhaft und weit entfernt wie das Schloss selbst. K.s Anwesenheit im Dorf scheint ein Irrtum, aber er ist stur, will bleiben, will eine Stelle, ein Leben im Dorf. Das klappt nicht so gut.

Jeder liest einen Roman anders, keiner so wie Karin Henkel. Sie verfügt über einen unabdingbaren Kunstwillen, mit dessen Erfüllung sie nicht immer ganz fertig wird. Die Resi-Premiere musste um eine Woche verschoben werden, offiziell wegen Grippe im Ensemble, aber das nun präsentierte Ergebnis wirkt ein bisschen wie eine Angebotspalette, aus der man sich aussuchen kann, was einem gefällt. Vielleicht am besten Pollyester, die Dame am E-Bass, eine extrem theatererfahrene Musikerin, die hier quecksilbrige Zukunftsballaden im Falsett singt, sehr eigen, sehr schön. Was Arvild J. Baud als Sounddesign vorgibt, führt sie in größter Eigenständigkeit weiter, macht es zum Bühnenereignis.

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Etwas irritierend ist, dass Karin Henkel den Roman nach ungefähr einem Drittel weggelegt zu haben scheint und nach anderen Büchern griff. Nach Heiner Müller und "Der Mann im Fahrstuhl", nach weiteren Werken Kafkas. "In der Strafkolonie" etwa, eine Erzählung, in der von einem Apparat berichtet wird, der dem Verurteilten den Urteilsspruch in die Haut ritzt - da kommt aus dem Bühnenhimmel eine große Hand herab, die aussieht wie eine Animation aus einem Monty-Python-Film. Mal huschen ein paar Sätze aus dem "Prozess" über die Bühne, mal krabbeln Käfer herum wie aus der "Verwandlung". Es wirkt wie ein Kafka-Mash-up, es könnte ein Horrortrip sein, ist aber keiner, dazu ist es zu albern. Man ahnt schon, was da an Atmosphäre, zusammengebaut aus ihrer Eigentlichkeit beraubten Motiven entstehen könnte. Aber im Vergleich zum Roman wirken die Behörden hier so bedrohlich wie eine Kfz-Zulassungsstelle.

Es fehlt das erotische Fluidum

Verloren gehen bei Henkel Kafkas saftige Wirtshausschilderungen, die Abgründe seines Humors (der schwebt hier eher leicht herum) wie die der Sexualität. Es fehlen die Geschichten der Schwestern Olga und Amalia, zugrunde gerichtet von der nie zu greifenden Macht, es fehlt das erotische Fluidum der Frieda, mit der K. im Roman flugs eine Affäre beginnt, zunächst in den Bierlachen des Wirtshauses. Auf der Bühne lässt Henkel Vassilissa Reznikoff die Frieda mit durchgehend lispelnder, sie völlig desavouierender Piepsstimme spielen - dass die junge Frau das mitmacht, ist entweder Schonungslosigkeit oder nackte Verzweiflung.

Henkels Inszenierung könnte ein Horrortrip sein, ist aber keiner, dazu ist sie zu albern. (Foto: Lalo Jodlbauer)

Vor allem aber fehlt ein bohrend psychotisches Moment. K. könnte, im Roman, das Dorf, in dem ihm höchstens die Verlorenen freundlich gesinnt sind, verlassen. Er will aber nicht, er giert danach, Teil des Systems zu werden, aufzusteigen, seinen Platz in diesem amorphen, nicht greifbaren Machtgefüge zu erhalten. Das System des Schlosses hat ihn längst ergriffen, nicht physisch, aber im Geist. Auf der Bühne gerät K. einfach in ein Hochhaus, Machtzentrale einer verworrenen Bürokratie, und findet den Ausgang nicht mehr.

Sechs Menschen spielen K., manchmal gibt es mehrere K.s gleichzeitig, meist ist es einer oder eine, ganz tolle sind dabei wie Carolin Conrad oder Michael Wächter. Alle, und das ist dann schon immer wieder interessant, geben diesem K. eine andere, ihre Farbe mit, klar, wir sind alle K., Tierchen, die im Labyrinth des Systems den Ausgang suchen. Sie alle spielen auch noch andere Figuren, drei bleiben bei jeweils einer, sind auch nicht K.: Reznikoff sowie Evelyne Gugolz und Nicola Mastroberardino, die spielen die beiden Gehilfen K.s, für die sich Kafka schon absonderliche Verhaltensweisen ausdenkt, die Henkel nun, oft ziemlich lustig, für zwei Comicfiguren mit ulkiger Privatsprache übersetzt. Dazu kommen noch wirklich faszinierende Kinder, sechs an der Zahl.

Geht man nun also ins Residenztheater, ist es wohl am besten, man lässt Kafka zu Hause und begibt sich, unbelastet von größeren Grübeleien, in diese turbulente Sci-Fi-Burleske über das Individuum in Zuständen der völligen Entindividualisierung. Dann wird man zwar nicht schlauer, nicht angerührt oder angeregt, aber man erlebt einen tollen Zirkus. Der bedeutend kurzweiliger tut, als er tatsächlich ist.

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