Coronavirus:Wenn die Gefahr näher rückt

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Die Nähe zu Italien vermag es das alpenländische Idyll bedrohlich erscheinen zu lassen: Blick auf die Brennerautobahn, die Richtung München führt. (Foto: imago images; Bearbeitung SZ)

Verbote und Abriegelungen ganzer Städte sind in Deutschland schwer vorstellbar. Aber auch der demokratische Staat wäre zu massiven Einschränkungen berechtigt.

Kommentar von Johan Schloemann

Ist der Brenner mal zu, wird man in München nervös. Zwar hat sich der Corona-Verdacht gegen zwei Passagiere am Sonntag nicht bestätigt, und die Züge fahren wieder über die Alpen. Aber es gibt erste Infektionsfälle in Südtirol und in Innsbruck. Angesichts der drastischen Maßnahmen in Norditalien fragt man sich in Süddeutschland: Gibt es das auch bald bei uns? Und während es vor einigen Jahren wegen der Routen der Flüchtlinge noch um bremsende Grenzkontrollen ging: Kann es jetzt zu kompletten Sperrungen kommen? Wird gar, wenn es so weitergeht, das Oktoberfest ausfallen?

Ärzte und Gesundheitspolitiker sind sich offenkundig uneins, ob bei einer stärkeren Verbreitung des Virus in Deutschland Verbote und Abriegelungen infrage kommen sollten. Wie könnte es auch anders sein, wenn das Ausmaß der Gefahr noch unbekannt ist?

Manche Fachleute fordern ein strikteres Durchgreifen. Andere loben den Cordon sanitaire in China als eindrucks- und wirkungsvoll, sagen aber zugleich, dass hierzulande wohl keine Grenzen geschlossen und keine ganzen Städte unter Quarantäne gestellt würden. China, so analysiert es der Präsident des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler, habe "ein ganz anderes Regime". Dass man in Deutschland genauso vorgeht, so Wieler, "das ist in einer Gesellschaft wie der, in der wir leben, aus meiner Sicht nicht vorstellbar". Mitunter hören sich die Experten so an, als ob wir virologisch gesehen nur das zufällige Pech hätten, nicht in einer Diktatur zu leben.

Es ist schön und richtig, sich im Systemvergleich als offene Gesellschaft zu verstehen. Doch vergisst man dabei gerne, dass der moderne Staat in Europa überhaupt erst durch die Verstärkung physischer Kontrolle entstanden ist. Selbst Ultraliberale erkennen an, dass er prinzipiell für die Sicherheit und Gesundheit seiner Bürgerinnen und Bürger zuständig ist. In der Reaktion auf die Gefahr von Seuchen hat sich einst die Herrschaft des neuzeitlichen Staates durch Ausgangssperren und Patrouillen, Wachsamkeit und Blockaden geschult und herausgebildet. So hat, wie es der Historiker Michel Foucault ausdrückte, "die Pest das Modell der Disziplinierungen herbeigerufen". Mit der Seuchenkontrolle, so Foucault, wurde "die durchgängige Rasterung einer Bevölkerung mittels der politischen Macht" erfunden.

Was das mit der gegenwärtigen Lage zu tun hat? Nun, der Gesellschaft geht es in dieser Frage wie dem Einzelnen: Wer lange Zeit wohlauf und wohlhabend bleibt, hat verdrängt, wie prekär das Leben und die Gesundheit sein können. Dann wird eben schwer vorstellbar, dass auch der demokratische Staat zu massiven Zugriffen und Einschränkungen zugunsten des Gemeinwohls berechtigt wäre, wenn es nötig würde. Man wird gerne in Ruhe gelassen, gewöhnt sich an einen reibungslosen Wirtschaftsverkehr und an möglichst viel individuelle Handlungsfreiheit; wenn aber Gefahren einmal näher rücken, erwartet man trotzdem die totale Vor- und Fürsorge des Staates.

Und darum hätten wir auf die Frage, welche Eindämmungsmaßnahmen denn nun verhältnismäßig wären, am liebsten eine eindeutige Handreichung, so wie fürs richtige Händewaschen. Aber die gibt es nicht. Denn was aus den Erkenntnissen der Experten zu folgern ist, das sind nicht etwa nur medizinische Abwägungen. Sondern politische.

© SZ vom 26.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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