Christian Kracht in Frankfurt:Leiden und Werk

Christian Kracht

Warum nicht einfach auf Englisch schreiben? Weil er einfach nicht loskomme "von meinem geliebten Deutsch", sagt Kracht.

(Foto: Center for the Study of Europe Boston University/CC BY-SA 2.0)

Der Schweizer Schriftsteller eröffnet seine Vorlesung mit der erschütternden Erzählung seines Missbrauchs als Kind - und zeigt dann selbst auf, wie dieses Trauma sein gesamtes Werk durchzieht.

Von Felix Stephan, Frankfurt

Im November 2017 hat Christian Kracht eine Geschichte in der Zeitung gelesen: Der englische Prinz Andrew war nach Kanada gereist, um an der Lakefield College School im Namen des verstorbenen Schulpastors Keith Gleed ein Taufbecken einzuweihen. Daraufhin meldeten sich ehemalige Schüler des Internats und gaben an, von eben diesem Keith Gleed vergewaltigt worden zu sein. Auch Kracht hat die Schule besucht, als Gleed dort tätig war. Er war damals ein schmaler, blonder, leicht verzogener Junge aus den Schweizer Bergen. Seine Mitschüler hatten ihm den Spitznamen "Heidi" verpasst und machten sich einen Spaß daraus, ihn zu quälen.

Kracht erinnerte sich nun beim Lesen des Artikels, dass Pastor Keith Gleed ihn einmal in sein Holzhaus auf dem Campus gerufen und dort aufgefordert hatte, sich nackt auszuziehen. Er musste sich umdrehen, seinen Oberkörper nach vorn über eine Couch beugen. Hinter sich konnte er hören, wie Gleed seine Hose öffnete, die Schnalle des Gürtels öffnete und den Gürtel aus den Schlaufen zog. Dann peitschte er den zwölfjährigen Jungen aus, sieben, acht Schläge. Als er fertig war, wies er den Knaben an, sich nicht umzudrehen. Christian Kracht verharrte in der Position, die ihm vorgegeben worden war, und hörte nur das Schnaufen des Pastors, der allem Anschein nach hinter ihm masturbierte.

War das nur wieder ein Streich des fantasievollen Kindes?

Als er weinend, am Telefon, seinen Eltern davon erzählte, wollten oder konnten sie die Geschichte nicht glauben. Wahrscheinlich, so nahmen sie an, handelte es sich wieder um einen der Streiche des fantasievollen Kindes, erst kürzlich hatte er schließlich in der Schule Beatles-Songs als seine eigenen ausgegeben.

Sein ganzes Leben lang wusste Kracht dann selbst nicht, ob die Geschichte passiert war oder ob er sie sich nur eingebildet hatte. Erst als Prinz Andrew etwa 40 jahre später nach Kanada kam, um an seinem ehemaligen Internat das Taufbecken zu Gleeds Ehren einzuweihen, und sich daraufhin erst drei, dann zehn, dann dreißig ehemalige Mitschüler an die Öffentlichkeit wandten, stellte er fest, dass es sich nicht um eine "false memory" handelte, eine falsche Erinnerung, wie sie den Figuren bei Philip K. Dick eingepflanzt werden.

Christian Kracht hat diese Geschichte soeben bei seiner ersten Frankfurter Poetikvorlesung erzählt, in einer so erschütternden wie fulminanten Rede vor dem nahezu vollbesetzten Audimax der Goethe-Universität. Die Offenbarung muss ihn einige Überwindung gekostet haben, mehrmals blieb die Stimme in Tränen stecken. Dass er diese Rede ausgerechnet in Deutschland gehalten hat, ist hierbei nicht unerheblich. Der Titel seines Vortrags lautete "Emigration" und seine eigene Emigration beschrieb Kracht als den lebenslangen Versuch, "der Sprache Adolf Eichmanns" zu entkommen. Deutsch ertrage er nur aus der Ferne und in den Romanen von W. G. Sebald, Erich Kästner, Clemens Setz, Christoph Ransmayr und einigen anderen.

Seit Jahren lebt Kracht nicht mehr in Deutschland. Biografisch ist es für ihn das Land, in dem ihn die Journalisten zwanzig Jahre lang unermüdlich mit der Popkultur-Vokabel geschmäht, ihn einen Dandy und Faschisten genannt, ihn mit dem "Camp-Schwachsinn" überzogen und seine Schüchternheit gegen ihn verwendet haben. Als er sich in Frankfurt an die deutschen Journalisten wandte, grollte Kracht, wie man es bei ihm nun wirklich noch nicht gesehen hatte, es war Zorn, der da in seiner Stimme lag, und es war kein geringer. Allein: Es gelinge ihm nicht, den Weg von Nabokov einzuschlagen und einfach auf Englisch zu schreiben: "Ich komme von ihr (der Sprache, Anm. d. Red.) nicht los, von meinem geliebten Deutsch."

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