Spätestens seit Bret Easton Ellis' 1991 erschienenem Bestseller gibt es in der Gegenwartsliteratur ein eigenes Genre: die Inszenierung des frostigen Ennuis der nicht nur intellektuell, sondern auch materiell turmhohen Überlegenheit, angereichert mit extrem reflektierter moralischer Verkommenheit. In Großbritannien trieb das etwa Edward St. Aubyn in seiner "Some-Hope"-Trilogie in beachtliche Höhen, in Deutschland seit seinem 1995 veröffentlichten Debüt "Faserland" immer wieder Christian Kracht. Kein Wunder. Sehr wenige Figuren eignen sich so gut für ein paar schaurig schöne Schauer cooler Kulturkritik wie der supersmarte, aber kaputte Schnösel aus bestem Hause.
Man denkt daran mit dem in solchen Fällen gebotenen wohligen Widerwillen, als man im ersten Kapitel von Alexander Schimmelbuschs neuem Roman "Hochdeutschland" nach ein paar Seiten diesen Absatz liest, in dem die Hauptfigur Victor, erfolgreicher Investmentbanker und - genau - supersmarter kaputter Schnösel, über den Ehemann seiner Affäre Maia nachdenkt: Wenn er diesen "jungen Deutschbanker der alten Schule" sah, "musste er jedes Mal an die sorgfältigen Pitches denken, von Historikern kürzlich im Keller der Hauptfiliale Hannover entdeckt, mit denen sich die Deutsche Bank Anfang der 40er-Jahre um die Finanzierung verschiedener Bauabschnitte des Vernichtungslagers Auschwitz beworben hatte. Aber Maias Gatte war harmlos, ein Sonderling, so sah es Victor, die Art Mann, der Wälder zur Jagd pachtet und sich in einer Art Förster-Outfit in seiner Freizeit darin auf die Lauer legt, um zur Erholung mit einem Präzisionsgewehr Pelztiere zu exekutieren. Der die Kadaver dann ausweidet, häutet, trocken reifen lässt und schließlich fein häckselt, um aus ihnen delikate dünne Wildbratwürste zu drehen."
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Der Jurist Georg M. Oswald begegnet einer kopflosen Debatte mit sehr besonnenem Blick: In seinem neuen Buch analysiert und erklärt er die Grundrechte.
Im besten Sinn ist der Roman eine deutsche Antwort auf Michel Houellebecqs "Unterwerfung"
Danach muss man erst mal Luft holen, so genau und böse und brillant ist das ausgedacht und serviert. Wie bei einem guten Stand-up-Comedian. Die goldene Jerry-Seinfeld-Regel lautet ja: Stay in the bit! Bleib drin in der Nummer, wenn sie funktioniert, und setz noch einen drauf, und dann noch einen. Auschwitz - Exekution von Pelztieren mit dem Präzisionsgewehr - delikate dünne Wildbratwürste, selbst gemacht.
Und danach wird's noch besser. Oder vielmehr: bitterer, alberner, dünkelhafter, anmaßender, lustiger, lächerlicher, ätzender, wohlmeinender, informierter, unerträglicher, gemeiner, klüger. Mit anderen Worten: "Hochdeutschland" müsste man den politischen Roman zur Zeit nennen, wenn das nicht so abgenutzt klingen würde. Aber sei's drum. Schimmelbusch gelingt hier ein echtes Kunststück, das jetzt natürlich noch nicht verraten werden darf.
Jetzt erst mal bloß dies: Im besten und cleversten Sinn ist "Hochdeutschland" so etwas wie eine deutsche Antwort auf Michel Houellebecqs vor drei Jahren erschienenen dystopisch-satirischen Roman "Unterwerfung", in dem ein charismatischer muslimischer Politiker mit Hilfe der bürgerlichen Parteien (die vor allem die radikale Rechte im Schach halten wollen) französischer Präsident wird, aber dann Theokratie, Scharia und Patriarchat einführt.
Bei Schimmelbusch ist der Protagonist, der ungnädig das Elend des Landes und seiner Bewohner bilanziert, nur kein zynischer Literaturwissenschaftler, sondern ein mehrere Hundert Millionen Euro schwerer Frankfurter Eigentümer und Co-Chef einer Investmentbank. Kein marginalisierter Beobachter, sondern ein Hauptdarsteller, ein Sieger mit grenzenlosem Selbstbewusstsein, ein begnadeter Verkäufer und Menschenmanipulator, der nicht bloß Kundenakquise betreibt, sondern Kundenhypnose. Spezialgebiet: Präsentationen vom Typ "Strategische Optionen", die das Ziel haben, "die kindlichen Eroberungsfantasien, die durch die Wachträume von Unternehmenslenkern geistern (...), zu erspüren, einer Analyse zu unterziehen und ihren Urhebern dann als strategisch sinnvoll zu präsentieren."
Andererseits hat dieser Victor eine gescheiterte Ehe hinter sich, eine kleine Tochter - und ein wirklich schlechtes Gewissen. Oder wenigstens heftige Systemzweifel angesichts der Ungerechtigkeit der Einkommens- und Vermögensverteilung, die zum Beispiel zur Folge gehabt habe, dass es in Frankfurt eine "neue Klasse von Angestellten" gebe, die "ungefähr ab ihrem 30. Lebensjahr über eine Million Euro im Jahr" bezögen: "Wo waren die roten Fahnen, wo waren die Mistgabeln? Warum ölte niemand eine Guillotine?"
Das Buch nimmt damit gleich am Anfang eindrucksvoll Fahrt auf und blickt so kundig wie kühl von innen auf die grotesken Winkelzüge der herrschenden Finanzökonomie und Wirtschaftspolitik und ihrer Protagonisten: "An diesem Punkt war der Gedanke hilfreich, dass kein Mensch nachvollziehen konnte, weshalb sich deutsche Pumpspeicherkraftwerke, also sicherheitsrelevante Infrastrukturanlagen, in den spekulativen Portfolios irrlichternder Texaner befanden." Wobei - der Roman ist voller solcher Volten - Victor ein Jahr zuvor die Angelegenheit als Berater der "Energie Baden-Württemberg" selbst einfädelte. Aber: "Es war ja nicht so, dass dies zweckdienlich erschien."
Denn wenn man sich "mal einen Standpunkt erlaubte", so Victor, dann "sollte sich eine solche Anlage, wenn sie in Deutschland arbeitete und somit der deutschen Bevölkerung zu dienen hatte, auch im Besitz der Bundesrepublik befinden." Insbesondere wenn die Energiewende die "volkswirtschaftliche Relevanz der Pumpspeicher stetig erhöhte, während sie gleichzeitig deren betriebswirtschaftliche Tragfähigkeit dahinschmelzen" ließ.
Die Farce ist hier die Komödie, bei der einem das Lachen im Hals stecken bleibt
Dass der Autor, wie sein Protagonist, einige Jahre als Investmentbanker für Unternehmenstransaktionen gearbeitet hat, und auch noch aus dem deutsch-österreichischen Industriehochadel stammt (sein Vater Heinz Schimmelbusch war als Vorstandsvorsitzender der Metallgesellschaft AG Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger Chef von mehr als 60 000 Angestellten), dürfte ihn zweifellos inspiriert haben, wie auch schon bei der Arbeit an seinen Vorgängern "Blut im Wasser" und "Im Sinkflug". Aus "Hochdeutschland" deshalb mit falscher Ehrfurcht Dokufiktion zu machen, hieße jedoch, den Roman grob zu unterschätzen.
Anders als bei Houellebecq biegt die Sache nämlich nicht Richtung Fatalismus ab, sondern - viel fieser noch: zum Positiven. Victor hält ein radikal liberal-populistisch-nationalistisches Projekt für nötig, "um das deutsche Volk zu einen", und schreibt ein irres Manifest "direkt an den Souverän" gegen das "obsessive Ich" für ein neues "entschlossenes Wir". Das Programm ist das Herzstück des Romans und will es energisch allen recht machen. Victor fordert darin eine Vermögensobergrenze bei 25 Millionen Euro (alles darüber ist unverzüglich an das Gemeinwesen abzuführen), eine staatliche Fondsgesellschaft zur Abwehr finsterer Wüstenspekulanten, maßgeschneiderte Bildungsförderprogramme für alle und fugenlose Autobahnen.
Mit anderen Worten: Er fordert eine Gesellschaft, die dem "Maschinenschlosser noch im hohen Alter seine Umschulung zum urzeitlichen Aalfischer" möglich macht und die nur noch eine Klasse kennt: die deutsche Mittelklasse. Was dann passiert, muss man selbstverständlich selber lesen. Nur so viel: Das Manifest hat manifeste Folgen, ein gar nicht böser türkischstämmiger Politiker wird Kanzler - und "Hochdeutschland" bringt am Ende das Kunststück fertig, gleichzeitig der Traum und die Horrorvision jedes besorgten Gutbürgers zu sein.
Bei der Lektüre jedenfalls bekommt man die Frage, ob die Lage eigentlich nicht sogar noch viel kaputter ist, als man ohnehin vermutet, nicht mehr aus dem Kopf. Und hinterher meint man, sie sogar beantworten zu können: Kommt darauf an, wie genau man über die Lage Bescheid wissen möchte. Und für wie blühend man Alexander Schimmelbuschs Fantasie hält. Die Farce ist hier jedenfalls die Komödie, bei der einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Der neue Finanzminister Olaf Scholz hat übrigens gerade den Deutschland-Chef der Investmentbank Goldman-Sachs zu seinem Staatssekretär gemacht.