Neuer Roman "Die Toten":Christian Kracht zelebriert die hohe Kunst der Uneindeutigkeit

Sein neuer Roman spielt in der Filmindustrie zur Zeit der Machtergreifung durch die Nazis. Und alle Welt darf wieder grübeln: Ist das alles jetzt ernst oder ironisch gemeint?

Buchkritik von Jens-Christian Rabe

Jetzt ist es also doch wieder passiert. An diesem Donnerstag erscheint der neue Roman "Die Toten" von Christian Kracht, und der Autor der deutschen Gegenwartsliteratur, der sich am hartnäckigsten konkreten Fragen zu seinen Büchern zu entziehen scheint (sogar seine Lesungen finden in der Regel kommentarlos statt), steht schon wieder turmhoch vor seinem Buch. Man darf also Methode vermuten. Und muss hier erst mal mit dem Mann beginnen, um zum Werk zu kommen. Genauer: mit dem Dandy mit den immer einen Hauch nachlässig getragenen feinen Schals und Tweedsakkos, der mit "Faserland" in den Neunzigern berühmt wurde und mit seinem 2012 erschienenen Roman "Imperium" endgültig zu einem der bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren promoviert wurde.

Denn welcher Schriftsteller, der wirklich nur sein Werk sprechen lassen wollte, ließe die Berichterstattung mit einem Vorab-Fernsehinterview in den Hollywood Hills (vergangene Woche in der ARD bei Denis Scheck) beginnen? Und mit einem Vorab-Zeitungsporträt, aufgezeichnet bei Rindertartar im Züricher Café Odeon, in dem einst auch schon James Joyce und Italo Svevo verkehrten (im Feuilleton der Zeit)?

Im Fernsehen trägt Kracht auch noch einen Vollbart samt angezwirbeltem Schnauzer, und seine Haare sehen beinahe so aus wie die von Emil Nägeli, der einen Hauptfigur, von der es im neuen Buch heißt: Ihm "gingen die hellblonden Haare aus, sowohl über der Stirn als auch am Hinterkopf; er hatte begonnen, sich eine langgewachsene Strähne von der Schläfe her seitwärts über die so verleugnete Glatze herüberzukämmen." Und als "mrchristiankracht" hat der Autor dann ja auch noch für eine Woche den Instagram-Account seines Verlags Kiepenheuer & Witsch übernommen. Als Erstes postete er ein elegisches Foto von sich selbst, seitlich, vor dem golden schimmernden Fenster einer prunkvollen alten Villa.

Andererseits sieht man den großen Ironiker Kracht schon vor sich, wie er sich dieser Tage bei der Durchsicht der Kritiken und Reaktionen still amüsiert über jeden Rezensenten, der stolz mit dem Literaturkritik-Einmaleins herumwedelt und beflissen darauf hinweist, dass man den Erzähler Kracht auf keinen Fall mit dem Autor Kracht verwechseln dürfe: Ach ja, wirklich, interessant, darf man nicht, ist das so?

Charlie Chaplin als Mörder

Also schleunigst ein paar Worte zum Buch. Es spielt um 1933. Und in drei Teilen führen 46 selten mehr als fünf Seiten lange Kapitel die zwei Hauptfiguren aufeinander zu, den Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli und den japanischen Kulturbeamten Masahiko Amakasu, die es beide in ihrem Leben nicht leicht hatten. Amakasu verachtet den aufkommenden Tonfilm und möchte eine "zelluloidene Achse" zwischen Berlin und Tokio gegen den aggressiven amerikanischen Kulturimperialismus in Stellung bringen, "dessen Ausformungen sich virengleich über das Kaiserreich der Showa-Herrschaft ausgebreitet" hätten.

Es sollen also deutsche "Fachleute" in Japan "mit den exzellenten Objektiven von Carl Zeiss und dem allem überlegenen Agfa-Filmverfahren" einen Film drehen. Angeführt am besten vom Bergfilm-Pionier Arnold Fanck, den es tatsächlich gab, oder wenigstens von Fritz Lang. Daraus wird jedoch nichts, aber er bekommt Emil Nägeli, der in seinem Film "Die Windmühle" immerhin, wie Amakasu bemerkt, "innerhalb der Ereignislosigkeit das Heilige" aufgezeigt habe.

Figuren und Handlung bilden dabei letztlich vor allem Rampen für ein wildes Programm von Anspielungen, Verweisen, Chameo-Auftritten, Umdichtungen und delikaten Kracht-Spleens aller Art, für die Schilderung von Winkelzügen klassischer Großmachtdiplomatie, für Charlie Chaplin als Mörder und sonstiges mehr oder weniger glorreiches Filmhistorisches, für ein Attentat auf Japans Premierminister, für Erörterungen über Ritual-Selbstmorde und eine chinesische Todesfoltervariante namens Lingchi, für den legendären deutschen Filmkritiker Siegfried Kracauer, für Heinz Rühmann und Lotte Eisner, für Hollywood, die Schweiz und den antisemitischen deutschen Medien-Tycoon Alfred Hugenberg und für Berliner Szenen aus der Zeit der Machtergreifung der Nazis und judenfeindliche "Taxischofföre".

Eingestöpselte Seele

Was den literarischen Stil betrifft, so bleibt der einstige Reduktionist Kracht beim Thomas-Mann-haften, prätentiös-ausladenden, aber nicht immer ganz stilsicheren und rhythmisch etwas unzuverlässigen Plauderton, der schon die beiden Vorgänger "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" und "Imperium" auszeichnete:

"Der Samen war also gepflanzt, einer schlafenden Rakete gleich, und nichts sollte sein dereinstiges Wachstum, seinen Sternenflug ersticken können, weder Masahikos vordergründige Verachtung der westlichen Welt noch die ganz offensichtlich auf Expansion und auf Erniedrigung anderer Völker ausgerichtete Seele Deutschlands, die der junge Mann so genau erfühlen konnte, als habe er wiederum seine Seele mittels ätherischer Konduktoren in sie eingestöpselt."

Ironisch lesen? Ernst nehmen? Mit beidem wird man nicht glücklich

Sonst ist Krachts Prosa diesmal gespickt mit Adjektiven, und zwar sprachconnaisseurhaft bis über die Grenze zur Parodie: Gebisse sind "obsidianfarben", Atem ist "alraunig", eine Kehle "kaminös", Polizisten "kretinös".

Das Vertrackte ist nun, dass man mit all dem Überfluss weder glücklich wird, wenn man diese Prosa zu abgezockt ironisch liest, noch, wenn man sie zu ernst nimmt. Im ersteren Fall geht es dann irgendwann um gar nichts mehr außer um die nächste Runde auf der Geisterbahn der Uneigentlichkeit. Im letzteren geht einem der allzu ambitionierte Manierismus irgendwann doch ein wenig auf die zarten Nerven, und man beginnt wie Claudius Seidl in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung etwas arg unfroh an Grammatikfehlern und sonstigen irritierend offen ausgestellten stilistischen Unstimmigkeiten herumzuklügeln. Was tun?

Ein Arrangeur ist hier am Werk mit Faible für die Erleuchtung, die das Zwielicht verspricht

Tja, womöglich hat man das größte Vergnügen mit den "Toten", wenn man beim Lesen bereit ist zum mittleren Oszillieren. Wenn man also zulässt, nicht einfach nur souverän, distanziert zu lesen, sondern sich eher so hin- und herschwingen zu lassen zwischen Ironie und Ernst, zwischen Ästhetizismus und Albernheit, zwischen literarischem, cineastischem und zeitgeschichtlichem Spezialistentum und mutwilliger Fahrlässigkeit, zwischen Historischem und Fiktivem, Brüchen und der Heilung von Brüchen, zwischen dem Spielen eines Spiels und seiner Sabotage.

Mark Twain stellte dem "Huckleberry Finn" einst die Bemerkung voran: "Wer versucht, in dieser Erzählung ein Motiv zu finden, wird gerichtlich verfolgt; wer versucht, eine Moral darin zu finden, wird des Landes verwiesen; wer versucht, eine schlüssige Handlung darin zu finden, wird erschossen."

Der Drang zur Vereindeutigung der Lektüre bringt einen bei den "Toten" genauso geradewegs in Teufels Küche wie etwa schon beim 2006 erschienenen Essay "Die totale Erinnerung" über Krachts Besuch in Nordkorea, seinem bis heute wohl härtesten Flirt mit dem Totalitären. Das Land faszinierte ihn vor allem als virtuose Staatsinszenierung, als gigantischer Bluff, als "manischstes Projekt der Menschheit, ja als ihr größtes Kunstwerk".

Genießerhaft verwies jener Text darauf, dass die Züge der U-Bahn in Pjöngjang vom Typ "Gisela" seien, einst hergestellt von "der Fabrik Vereinigter Schienenfahrzeugbau der DDR - VEB Lokomotivbau - Elektrotechnische Werke ,Hans Beimler' - Stammbetrieb Hennigsdorf, die im Ost-Berlin der Deutschen Demokratischen Republik (Typ ,Dora' in West-Berlin) zum Einsatz kamen". Man erfuhr, dass Kim Jong Il, "wie auch sein Vater Kim Il Sung", starke Flugangst hat, und dass seine Lieblingsmusik, "und dies wird kaum überraschen", Pink Floyd ist. War das in seiner blasierten Lakonie nun eine Kritik an der Bombast-Kitsch-Band Pink Floyd? Oder an Kim Jong Il? Oder an beiden? Oder an gar nichts? Bitte oszillieren Sie.

Es hilft fürs Erste aber auch schon, sich bei Gelegenheit einen Eindruck vom Rezitator Kracht zu machen, der etwa auf dem Münchner Literaturfest vor ein paar Jahren angelsächsische Lyrik von T. S. Eliots "Wüstem Land" bis Allan Ginsbergs letztem Gedicht "Things I'll Not Do (Nostalgias)" im Original vortrug. Oder vom Vorleser Kracht, der im Hörbuch Truman Capotes "Frühstück bei Tiffany" fast tonlos liest, betont gleichmütig, und es dabei doch fertigbringt, schamanenhaft eindringlich zu bleiben. Kein geborener Fabulierer ist da am Werk, sondern ein feierlicher Nivellierer, ein fast zwanghafter Veruneindeutiger.

Man kann deshalb auch gut verstehen, warum Christian Kracht kein "Pop-Autor" sein möchte. Also keiner von denen, die Ende der Neunziger dazu ernannt wurden, weil in ihren eher konventionell erzählten Texten irgendwie Leben und Werk so munter zusammen- und ein paar angesagte Marken- und Bandnamen vorkamen (auch bei Denis Scheck kam die scheinbar ewige Trottel-Frage der deutschen Literaturkritik wieder auf; Kracht drückte sich natürlich formvollendet um die Antwort).

Ein Hardcore-Popist allerdings ist Kracht durch und durch. Das heißt: Er ist kein Spieler, sondern ein Anspieler, kein verbissener Durchdringer, sondern ein strahlender Überbringer, kein Bergender, sondern ein Borgender, kein Entdecker, sondern ein Wiederentdecker, kein Schöpfer im Rampenlicht des Genieverdachts, sondern ein Arrangeur mit Faible für die Erleuchtung, die das Zwielicht verspricht.

Und als ein solcher Popist weiß er (der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen hat mit "Über Pop-Musik" in Krachts Verlag Kiepenheuer & Witsch vor zwei Jahren ein ganzes Buch darüber geschrieben) natürlich auch ganz genau, dass nicht nur Pop-Musik mehr ist als bloß Musik, sondern im Grunde jede zeitgenössische Kunst längst mehr ist als bloß Kunst. Also auch die deutsche Gegenwartsliteratur, die ja nicht nur aus Büchern besteht, sondern längst ein Zusammenhang ist aus vielen Kunststücken, aus Büchern und Bildern, aus Interviews und Auftritten, aus Mode und Haaren. Und damit ein Format, das nicht nur vom Autor selbst, sondern von allen Beteiligten - von Autor, Verleger, Journalisten und Lesern - aus seinen Teilen immer wieder neu zusammengesetzt wird. Ob man das nun will oder nicht.

Im medialen Echtzeit-Sperrfeuer der Gegenwart

Oder um es in einen leider sehr unkrachtigen Satz zu fassen: Die je individuelle Wahrnehmung des Kunstwerks ist selbst wesentlicher Teil des Kunstwerks. Allerdings nicht im trivialen theoretischen Sinn der guten alten Postmoderne. Sondern im medialen Echtzeit-Sperrfeuer der Gegenwart.

Und wenn man das noch beeinflussen will, ist es eben nicht genug, einfach nur ein Buch zu schreiben. Dies ernst zu nehmen, und es damit trotzdem weder sich noch den Lesern leicht zu machen, obwohl die Oberfläche doch erst mal so schaurig und gemütlich funkelt (Chaplin! Die Dreißiger! Film-Tycoone! Kulturimperialismus! Die Machtergreifung der Nazis! Japanischer Ritual-Selbstmord! Hollywood!), das macht die Größe Krachts aus. Mit anderen Worten: Wer sich von diesem Autor in den Ohrensessel locken lässt, sollte sich nicht wundern, wenn das hübsche Möbel langsam aus dem Leim geht.

Zu seinem zweiten Instagram-Bild, einer Szene mit ausgestopften Wölfen vor gemaltem Bergpanorama, notierte er übrigens einen Satz der amerikanischen Konzeptkünstlerin Jenny Holzer: "Symbols are more meaningful than things themselves." Symbole sind bedeutsamer als die Dinge selbst. Genau das ist die Poetik von Christian Kracht.

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