Kunstbiennale von Venedig:Wir Pflänzchen

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Körperliche Formen wachsen in alle möglichen Weiterungen: Felipe Baeza: "Por caminos ignorados, por hendiduras secretas, por las misteriosas vetas de troncos recién cortados" (2020). (Foto: Ian Byers-Gamber/Courtesy Maureen Paley/Felipe Baeza)

Menschen, aus denen Blumen wachsen: Die Biennale bejubelt ausgerechnet den Surrealismus für feministisches Empowerment. Und auch sonst dürften astrologisch Feinfühlige fasziniert sein.

Von Peter Richter

Immer wieder Körper und Pflanzen, Biomorphes und Vegetabiles, Wachsen und Wuchern: Am Ende hat man bei der Hauptausstellung dieser 59. Kunstbiennale von Venedig den Eindruck, so oft wie noch nie zuvor menschliche, vor allem weibliche Körper gesehen zu haben, aus denen Pflanzen sprießen - und umgekehrt. Die Kuratorin Cecilia Alemani hat da einen hinreißenden Parcours ausgelegt, auf dem enorm viele Arbeiten zu sehen sind, zum größten Teil von Frauen, von Superstars über Wiederentdeckungen bis Nachwuchstalenten, die trotz dieser beträchtlichen Bandbreite auffällig häufig um bestimmte Themen kreisen.

Die wiederum hat Alemani mit "Time Capsules" genannten Mikro-Ausstellungen innerhalb ihrer Großausstellung noch einmal akzentuiert. Und wenn es auch Goldene Löwen als Preis für ganze Räume gäbe, die man auf der Stelle einem Museum zum Ankauf ans Herz legen möchte, dann könnte die Jury hier damit um sich werfen. In den intim inszenierten Kabinetten geht es um historische Kapitel der Kunstgeschichte, ausschließlich von Frauen. Die Titel lauten unter anderem "The Witch's Cradle", "Seduction of the Cyborg" oder "Technologies of Enchantment", und es geht um den selbst ernannten Hexenzirkel der Surrealistinnen um Leonora Carrington, aus deren Schriften auch der Titel der ganzen Veranstaltung stammt: "The Milk of Dreams". Es geht um frühe Verschmelzungsfantasien von Mensch und Maschine als Vorgriff auf das, was später eben Cyborg genannt werden sollte. Und immer wieder geht es um "Re-Enchantment", eine Wiederverzauberung mit allen möglichen Mitteln, um der von Max Weber einst konstatierten "Entzauberung" der technologisierten Welt etwas entgegenzusetzen, zum Beispiel ausgerechnet Technologie.

Das fußt auch auf der Pionierarbeit der großen Frankfurter Surrealistinnen-Schau vom vergangenen Jahr und wird zeitgleich flankiert von einer Ausstellung in der Peggy Guggenheim Collection auf der anderen Seite des Canal Grande, wo es um "Surrealismus und Magie" geht, Untertitel: "Enchanted Modernity", verzauberte Moderne. (Ab Oktober im Museum Barberini Potsdam.)

Die Rückkehr magischen Denkens wird gerade gern als emanzipatives Projekt verstanden

Ausgerechnet den Surrealismus nun jubelnd als Bewegung für feministisches Empowerment hingestellt zu bekommen, mag verblüffen, eigentlich sogar ein bisschen beängstigen, ist aber äußerst zeitgenössisch. Denn Leute mit Faible fürs Okkulte wissen es längst, und wer Esoterischem mit Skepsis oder gar Aversionen gegenübersteht, muss seit einigen Jahren umso mehr zur Kenntnis nehmen: Die Rückkehr magischen Denkens wird unter dem Rubrum "alternative Wissensweisen" als emanzipatives Projekt verstanden und mit großem institutionellem Erfolg vorangetrieben. Auch bei dieser Biennale steht das Wort "Spiritualität" in den Erklärtextchen an der Wand mit einer Häufigkeit, wie sonst die Kunstbetriebsvokabeln "Position" oder "Setzung".

Rosana Paulino,, aus der Serie "Jatobá" (2019). (Foto: Bruno Leão/Rosana Paulino/Mendes Wood DM São Paulo, Brussels, and New York/Rosana Paulino)

Begriffe aus den Tiefen der Siebziger wehen einen wieder an: Soma, also der Körper. Von Somatisierung haben Religionssoziologen damals gesprochen, als sich die politische Revolte in die Körper zurückzog, das Gesellschaftliche nach innen krempelte, der eigene Leib gleichzeitig zum Tempel und zum Richtplatz wurde. Auch die Figur des "Schamanen" geht wieder um, jedenfalls solange es sich die indigenen Tierurin-Trinker Sibiriens nicht als kulturelle Aneignung verbitten, dass der Begriff dauernd von Westlern übergezogen wird, die den Medizinmann, den Heiler und den Heiland in sich spüren. Seit der hohen Zeit der Sexkommunen dürfte auch der Psychoanalytiker Wilhelm Reich nicht mehr so oft beschworen worden sein wie heute. Das mischt sich nun mit den Stichworten der Jetztzeit wie Anthropozän, Achtsamkeit gegenüber anderen Spezies und globalem Süden. Aus den Neunzigern ist das "Relationale" zurück, damals war der freundliche Umgang miteinander schon einmal Gegenstand der Kunst, zum Beispiel das Kochen.

Nebenan ließ eine Künstlerin einer Pflanze ein Gen aus ihrem eigenen Körper einbauen

Vielleicht ist es mehr als nur ein Zufall, dass der Schöpfer des Begriffs von der "relationalen Ästhetik", der Kurator Nicolas Bourriaud, jetzt ein paar Gassen weiter ebenfalls eine neue Privat-Ausstellung eröffnet. Und dass dort eine junge Künstlerin, Dana-Fiona Armour, einer Pflanze ein Gen aus ihrem eigenen Körper einbauen ließ; auf den betreffenden Tabakblättern wachsen allmählich rote Haare. Das hat etwas von Techno-Grusel, aber Bourriauds Ausstellung heißt auch "Planet B. Climate Change and the New Sublime". Der theoriefreudige Franzose verspricht, die Ästhetik des Erhabenen für eine Welt in den "Feedback-Schleifen" von Technologie und Klimawandel zu erneuern. Das Erhabene sei halt heute nicht mehr das, was wegen Größe und Ferne erschaudern lässt wie Gebirge oder Meer die Maler der Romantik. In einer "schrumpfenden Welt" sei es vielmehr dem vergleichbar, "was der Hase fühlt, der vom Scheinwerfer eines heranrasenden Autos geblendet wird".

So wie man in dieser Biennalen-Ausstellung körperliche Formen in alle möglichen Weiterungen hineinwachsen sehen kann, lässt sich auch die Ausstellung selbst als Körper betrachten, die durch die Lagune wuchert. Hier und da scheint einer der Länderpavillons thematisch aufgepfropft, und draußen in der Stadt kreisen zig Kollateral-Ausstellungen um das Ganze wie makrokosmische Gestirne, die nicht nur astrologisch Feinfühlige faszinieren dürften.

Da gibt es im polnischen Pavillon eine Bezugnahme auf Aby Warburgs berühmte Untersuchung des "Nachlebens" antiken Sternenglaubens in den Fresken des Palazzo Schifanoia, nur um im Gegensatz zu Warburg Kulturelles (in dem Fall geht es um die Mythen polnischer Roma) nicht zu analysieren, sondern zu re-mystifizieren. Und da gibt es, um bei der Gelegenheit einen anderen Warburg'schen Begriff zu zitieren, "energetische Inversionen": In der Fondazione Prada haben die Künstlerin Taryn Simon und der Kurator Udo Kittelmann eine enzyklopädische Ausstellung über das "Human Brain" - von archäologischen Schädelöffnern bis zum aktuellen Stand der Neurowissenschaft. Eine zerebralere Gegen-Schau zu der sehr aus dem Gefühl und dem Leiblichen, nicht zuletzt dem Unterleiblichen heraus argumentierenden Biennale ist schwer vorstellbar.

Von dort ist es dann nicht mehr weit zu dem Raum der Victor-Pinchuk-Foundation für die Ukraine, wo einem der "Westen" zur Abwechslung nicht als etwas begegnet, das rationalitätskritisch angeklagt wird, sondern für dessen Zugehörigkeit gerade Menschen in den Tod gehen, die lieber nicht einer Herrschaft des Mystizismus anheim fallen wollen. Dort kann man auch Kriegstrümmer aus der Ost-Ukraine an einem Gestell hängen sehen: verbogenes Metall, das, so wie es da hängt, auf beklemmende Weise schon wieder den amorph schwellenden Körpern auf manchen Arbeiten in der Biennale ähnelt. Formen können beim Migrieren Inhalt und Ladung ändern, das lehrt ebenfalls Warburg.

Still aus Melanie Bonajos Film "When the body says Yes", zu sehen im niederländischen Pavillon. (Foto: Melanie Bonajo)

Direkt nebenan hat Melanie Bonajo für den Beitrag der Niederlande eine Kirche in eine Kuschelhölle für Psychedeliker verwandelt; auch dort morphen die Kissen und Körper umeinander herum wie Essig und Öl. Ganz ähnliche Formen kann man auch über die neuen Gemälde von Daniel Richter wallen sehen, der im Ateneo ausstellt, wo einst die Hinrichtungskandidaten auf den letzten Gang eingestimmt wurden. Milchige Träume? Neo-Surrealismus? Schön wäre es. Der Berliner Maler legt in einem zweiten Raum ungewohnt brutal offen, auf was seine halbabstrakten Formen anspielen: Kriegsversehrte und ihre Prothesen.

Der russische Pavillon bleibt derweil geschlossen; das Einzige, was es dort zu sehen gibt, ist an der Fassade die stuckumrandete Jahreszahl "1914". Ein Zufall, klar, aber was für einer.

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