Berlinale 2014:Schwäche für Blut

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Der Underdog hat gewonnen: Diao Yinan aus China holt bei der Berlinale mit dem Krimi "Schwarze Kohle, dünnes Eis" den "Goldenen Bären". Ganz so überraschend wie die Entscheidung erscheint, kommt sie allerdings nicht. Trotzdem hätten andere Filme die Trophäe eher verdient gehabt.

Von Paul Katzenberger, Berlin

Hier fließt gleich jede Menge Blut: Szene aus dem chinesischen Kriminalfilm "Black Coal, Thin Ice", der bei der Berlinale 2014 mit dem "Goldenen Bären" ausgezeichnet wurde. (Foto: Festival)

Der Underdog hat gewonnen: Diao Yinan aus China holt bei der Berlinale mit dem Krimi "Schwarze Kohle, dünnes Eis" den "Goldenen Bären". Ganz so überraschend wie die Entscheidung erscheint, kommt sie allerdings nicht. Trotzdem hätten andere Filme die Trophäe eher verdient gehabt.

Diesen Namen hatte niemand auf dem Zettel. Die Entscheidung der diesjährigen Berlinale-Jury, den chinesischen Regisseur Diao Yinan für seinen Film "Bai ri yan huo" ("Schwarze Kohle, dünnes Eis") mit dem Goldenen Bären auszuzeichnen, löste zunächst Erstaunen aus: Dieser 44-jährige Filmemacher aus der zentralchinesischen Provinz Shaanxi sollte nach dem Urteil der Juroren tatsächlich die US-Regiegrößen Richard Linklater und Wes Anderson hinter sich gelassen haben? Hat sich das Preisgericht da nicht unter Umständen geirrt?

Man kann die letzte Frage mit einem klaren "Ja" aber auch mit einem ebenso klaren "Nein" beantworten.

Zur Fraktion der "Ja"-Sager dürften diejenigen gehören, denen es vor allem um den Preis für den tatsächlich besten Film geht. Denn den Berlinale-Hauptpreis hätten sowohl Wes Anderson für seine Nostalgie-Fabel "Grand Budapest Hotel" als auch Richard Linklater für seine Langzeit-Experiment "Boyhood" redlich verdient gehabt.

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Viele Filme der Berlinale spüren der Verzweiflung in Gesellschaften nach, die sich und ihre Werte aufgegeben haben. Ob im krisengeschüttelten Griechenland, in der Macho-Welt Argentiniens oder im aufstrebenden China - überall wächst die Einsamkeit.

Anderson zündet im "Budapest Hotel" mal wieder eines seiner Phantasie-Feuerwerke, das nach Meinung so manchen Berlinale-Gängers bislang sogar sein bestes war. Und auch Linklater hat in "Boyhood" seine Stärken weiterentwickelt. Dass er seine profunde Menschenkenntnis in hinreißende Dialoge zu verpacken versteht, weiß man seit der Sunrise/Sunset/Midnight-Trilogie, die er über einen Zeitraum von 18 Jahren spannte.

Diesen wirkungsvollen Zeit-Effekt reizt er in "Boyhood" nun noch stärker aus, indem er ein Kind zum Hauptprotagonisten erklärt, dem wir buchstäblich beim Erwachsenwerden im echten Leben zusehen können, weil Linklater den Film mit den immerselben Schauspielern über einen Zeitraum von zwölf Jahren drehte. Allein dieses Wagnis einzugehen, wäre fast schon einen "Goldenen Bären" wert gewesen.

Passend zur Ahnengalerie

Doch die beiden Texaner hatten ein Problem: Ihre Stoffe waren für einen Berlinale-Triumph einfach viel zu leicht. Ein Märchen wie "Grand Budapest Hotel" ist in Berlin zuletzt 2002 mit dem "Goldenen Bären" ausgezeichnet worden - damals bekam ihn der Japaner Hayao Miyazaki für seine Ausnahme-Fantasy-Animation "Chihiros Reise ins Zauberland". Und dass gar ein humorvolles Drama wie "Boyhood" in Berlin mit dem Hauptpreis prämiert worden ist, liegt noch länger zurück: Ang Lee gelang das 1995 mit "Sinn und Sinnlichkeit".

Berlin, das im Vergleich mit Cannes und Venedig als das politischste der drei Großfestivals gilt, liebt vielmehr die schweren Themen. Dass Miyazaki seinen "Goldenen Bären" 2002 mit Paul Greengrass teilen musste, wirkt symptomatisch. Der Brite bekam den Preis für ein Bürgerkriegsdrama mit dem sprechenden Titel "Bloody Sunday".

Dies ausgeführt, erneut die Frage: Hat sich diese Jury geirrt? Nein, könnte man auch antworten. Sie hat zwar nicht den besten Film ausgezeichnet, aber immerhin den besten Wettbewerbs-Beitrag, der auch zur Ahnengalerie der Goldenen-Bären-Preisträger passt. Eine Entscheidung eher für etwas (die Tradition) als gegen etwas (die reine Qualität).

Trostpflaster und Kompensationen

Die Entscheidung war also keineswegs überraschend, wenn man all diese Aspekte berücksichtigt: In dem insgesamt schwachen Wettbewerb dieses Festivaljahrgangs ragte der blutige Kriminalfilm "Schwarze Kohle, dünnes Eis" unter der Behandlung schwerer Stoffe nämlich tatsächlich positiv heraus.

Regisseur Yinan schafft es, das uns vertraute Genre des Neo-Noir-Films mit der uns gleichzeitig sehr fremden Welt der nordchinesischen Provinz glaubwürdig zu verknüpfen. Denn der hard-boiled detective, den dieses Genre hervorbrachte, passt als zynische und brüchige Ermittlerfigur besonders gut zu einem Schauplatz des "neuen goldenen Zeitalters" in China, das durch allgegenwärtige Korruption und Willkür bestimmt ist. Wie Yinans Schnüffler Zhang Zili (Liao Fan) der Wahrheit hier auf den Grund geht, kann durchaus als politischer Kommentar zur Lage in China aufgefasst werden.

Unter den weiteren ausgezeichneten Filmen war tatsächlich fast all das zu finden, was in diesem Jahr preiswürdig war. Wes Anderson und Richard Linklater dürfen ihre Auszeichnung mit dem "Grand Prix" beziehungsweise mit dem silbernen Regie-Bären als Trostpflaster dafür betrachten, dass ihnen der ganz große Triumph versagt blieb.

Die Auszeichnung von Anna und Dietrich Brüggemann mit dem Silbernen Drehbuch-Bären für "Kreuzweg" ging insgesamt in Ordnung. Mehr Filme dieser Qualität wurden bei dieser Berlinale vermisst.

Fragwürdiger erschien die Entscheidung, die Japanerin Haru Kuroki in "Chisai Ouchi" ("The Little House") zur besten Schauspielerin zu küren. Ihre Darbietung blieb im Vergleich mit der Leistung der 14-jährigen deutschen Nachwuchsentdeckung Lea von Acken in "Kreuzweg" arg blass. Und auch Patricia Arquette wusste als lebenskluge Mutter in "Boyhood" mehr zu überzeugen.

Womöglich suchte die Jury mit der Entscheidung für Kuroki nur nach einem Weg deren Regisseur Yoji Yamada wenigstens indirekt in der Liste der Geehrten unterzubringen. Das Kammerspiel des japanischen Altmeisters war ein grundsolider Ausflug in die höhere Tokioter Gesellschaft der 1940er-Jahre, der anscheinend nicht völlig unter den Tisch fallen sollte.

Doch auch Kompensationsentscheidungen haben bei Jurys eine lange Tradtion. Und zwar nicht nur bei der Berlinale.

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