Eintritt in den Garten der Berliner Festspiele, diesen schönen Ort, wo traditionell die Hollywoodschaukeln stehen und das Lagerfeuer knistert. Kein Theatertreffen ohne Zusammenkunft hier im Grünen. Es erklingt auch schon das Stimmengewirr der Besucher, ein Plaudern, Lachen und Prosten. Ein herrlicher Sound, lange nicht gehört. Ihm nach! Aber, rums, der Avatar läuft erst mal gegen die Wand. Mit welchen Tasten lenkt man ihn gleich noch mal geradeaus und dann nach links? Und wo sind all die Leute, deren Smalltalk-Gemurmel zu hören ist? Da: zwei Avatare beim Magnolienbaum. Doch die Kontaktaufnahme scheitert an einem Problem mit dem Mikro. Dabei war die Verheißung des "digitalen Festspielgartens" doch, mit anderen Menschen tatsächlich ins Gespräch zu kommen. Das scheint meistens auch zu klappen. Wenn es aber nicht klappt, ist es frustrierend, weil der Garten als solcher ja schnell erkundet ist.
Mozilla Hubs heißt die Wundertechnik, mit der sich solche digitalen 3-D-Räume erstellen und ohne großen Aufwand betreten lassen. Man kann sich da in Form von Avataren treffen, braucht dafür nur einen Computer und Kopfhörer - für das Theater in Zeiten geschlossener Bühnen und vereinsamter Zuschauer eine verlockende Sache. Die Dramaturgische Gesellschaft hat im Januar bereits ihre Jahrestagung in so einem virtuellen Begegnungsraum abgehalten. Und auch das Berliner Theatertreffen, das in diesem Jahr komplett online stattfindet, nutzt Hubs zur Simulation räumlicher Nähe.
"Festivals sind das Gegenteil von Lockdown und Distanz", sagt die Theatertreffen-Leiterin Yvonne Büdenhölzer. Ja. Sofern nicht eine Pandemie dem gemeinsamen Erlebnis schon zum zweiten Mal einen Strich durch die Rechnung macht. Ausfallen lassen wollten sie in Berlin die jährliche Leistungsschau des deutschsprachigen Theaters aber auf keinen Fall, schon der "Sichtbarkeit" halber, um zu zeigen, was es trotz Corona und Lockdown Herausragendes auf den Bühnen gab und gibt. Von all dem, was in den letzten zwölf Monaten theatralisch möglich war, sei es analog oder rein digital, hat eine Kritiker-Jury wie üblich die ihrer Ansicht nach zehn "bemerkenswertesten" Inszenierungen nominiert.
Ein Vorteil des digitalen Festivalangebots ist eine neue Art der Barrierefreiheit
Normalerweise reisen dann alle nach Berlin und erleben das, was ein Festival ausmacht: Nähe, Austausch, Begegnung. In diesem Jahr muss man sich mit Ersatzbefriedigungen begnügen. Etwa der Möglichkeit eines Live-Chats während der Übertragungen. Da können die einsam vor ihren Bildschirmen sitzenden Zuschauer dann nach Herzenslust reinquatschen - schriftlich natürlich nur -, Fragen stellen und Emojis verschicken. Ermöglicht wird das auf der neu eingerichteten Plattform "Berliner Festspiele Digital". "Ich habe noch nie Karten für das Theatertreffen bekommen, endlich darf ich mit dabei sein", schreibt eine Hannah im Chat zur Eröffnungsinszenierung "Einfach das Ende der Welt" von Christopher Rüping, live gestreamt aus Zürich. Sie formuliert damit einen Vorteil des digitalen, kostenlos verfügbaren Festivalangebots: seine im Prinzip unbeschränkte Reichweite und Zugänglichkeit, eine neue Art der Barrierefreiheit. "This thing is super cool", jubelt Ashley aus New York, andere mosern, weil der Stream hängt. "Psst ..!", macht ein Scherzkeks namens Hotzi, aber er hat ja auch recht: Wie soll man sich da auf die Vorstellung konzentrieren?
Also besser den Chat ausmachen und erst zur Nachdiskussion wieder einschalten. Sich auf den Stream einzulassen, ohne nebenher anderes zu tun, ist ohnehin nicht einfach, da mag die Geschichte eines schwulen Videokünstlers, der nach zwölf Jahren in der Großstadt sterbenskrank zu seiner Familie in der Provinz zurückkehrt und dort ein Gefühlsbeben auslöst, noch so intensiv gespielt sein. Rüping hatte sich zu Beginn live aus Zürich zu Wort gemeldet und erklärt, warum sie sich bei der Übertragung aus der riesigen Schiffbauhalle für eine einzige Kamera entschieden haben, "eine personalisierte Handkamera". Sie solle es den Schauspielern erleichtern, uns ferne Zuschauer zu imaginieren, uns zu "spüren". Der Blick wurde dadurch radikal subjektiv vorgegeben. Aber das ist ja grundsätzlich ein Problem bei der Theaterübertragung vom analogen in den digitalen Raum: Es ist durch die Kameraführung und Schnitte immer ein Director's Cut.
Ein Clou der Inszenierung ist die von Jonathan Mertz gestaltete Raumbühne. Sie zeigt in der ersten halben Stunde in detailseliger Ausstattung das Elternhaus des verlorenen Sohnes wie dieser es in Erinnerung hat, die Zimmer eingerichtet wie damals. Die alten Kassetten und Poster, die Blümchentapete, der Teddy. Auf der Digitalplattform des Theatertreffens gibt es die Möglichkeit, dieses Bühnenbild virtuell zu betreten und genau anzuschauen - auch das eine Vorgaukelung von Anwesenheit, Nähe. Dasselbe gilt für das imposante Bühnenbild, das Olaf Altmann für "Graf Öderland" entworfen hat: ein monumentaler schwarzer Trichter, der ausschaut wie ein ins Bühnenportal des Münchner Residenztheaters gepresstes Giga-Grammofon. Digitalisiert und aufbereitet in 3-D-Ästhetik lässt sich dieser Trichter per Mausklick in 360 Grad erkunden. Man kann durchschlüpfen bis auf die Hinterbühne. Dreht man sich nach vorne, tut sich wie ein tiefer Schlund das überleere Resi-Parkett auf. Geisterhaft.
"Graf Öderland" ist ein selten gespieltes, als gescheitert geltendes, in der Regie von Stefan Bachmann soghaft faszinierendes Stück von Max Frisch über einen Ausbruch, der zum Aufstand wird. Ein Staatsanwalt namens Martin bekommt es vor Gericht mit einem Bankangestellten zu tun, der völlig grundlos einen Hauswart erschlug. Ein Mord ohne Motiv, aus purer Langeweile. Das verstört den Staatsanwalt so sehr, dass er selber aus seinem Leben fällt. Statt zu den Akten greift er zur Axt, wird zum Amokläufer und zieht als Schreckgespenst Graf Öderland durchs Land. Ein Heer dubioser Gestalten schließt sich ihm an. Was sie antreibt, bleibt unklar - wie so vieles in dieser wüsten Horror-Parabel, die sich auf rechtsnationale Wutbürger à la Pegida oder die amerikanischen Kapitol-Stürmer ebenso beziehen lässt wie in Corona-Zeiten auf die Querdenkerbewegung.
Bachmann legt keine Deutung nahe, er inzeniert ohnehin nicht scharfkonturig-hart, sondern folgt der bizarren Dramaturgie des Traumes und den Stilelementen einer Brecht'schen Moritat. Die Trichterbühne zwingt die Figuren zu grotesken Verrenkungen, und Thiemo Strutzenberger spielt den rasenden Juristen so somnambul vergeistigt, gekrümmt und verzweifelt, dass er für seine Leistung den 3sat-Preis bekam. Im Residenztheater konnte "Graf Öderland", diese Koproduktion mit dem Theater Basel, noch nicht gezeigt werden. Die Aufführung gibt es als Fernsehaufzeichnung von 3sat und ist dort in der Mediathek bis zum 11. September abrufbar; ebenso wie zwei weitere Inszenierungen der Berliner Best-of-Schau: Schillers "Maria Stuart", in einem riesigen Setzkasten inszeniert von Anne Lenk (Deutsches Theater Berlin), und das wiederentdeckte Stück "Automatenbüffet" von Anna Gmeyner in der Regie von Barbara Frey (Burgtheater Wien).
Der Film "Was verloren sein könnte" zeigt die coronabedingte Leere am Theater. Ein trauriger Anblick
Eine eigene, wehmütig schöne Theatertreffen-Produktion ist der Film "Was verloren sein könnte" über die Leerstellen, die die coronabedingten Ausfälle verursacht haben. 35 Theater, Produktionshäuser und freie Gruppen haben sich mit kurzen Videos daran beteiligt. Sehr lustig das Ensemble des Hamburger Schauspielhauses, das stellvertretend zeigt, wie ein Theater baden geht - indem es kurios kostümiert in die eiskalte Alster springt, Goethe rezitierend: "Ach diese Lücke ... diese entsetzliche Lücke!" Wie tief diese Lücke in den Theatern klafft, zeigen Videos von leeren Zuschauerräumen, verwaisten Spielstätten, Garderoben, Foyers. So geballt ist das ein trauriger Anblick. Der ganze Betrieb steht still.
Ein leeres Theater, nämlich das Haus der Berliner Festspiele, ist auch die Schaltzentrale für die ansonsten weitschweifig durch Berlin streifende Produktion "Show Me A Good Time" des deutsch-britischen Künstlerkollektivs Gob Squad. Eine zwölfstündige Livestream-Performance, die als Koproduktion des Berliner HAU mit mehreren anderen Theaterhäusern komplett unter Pandemiebedingungen entstanden ist. Jeweils einer oder eine aus der Truppe betätigt sich als Alleinunterhalter auf der Bühne, während die anderen sieben mit Kameras durch die Stadt schwirren. Einer funkt aus dem leeren Flughafen BER, eine aus einer Schwulenbar, andere aus ihren Wohnungen. Zugeschaltet werden sie per Zoom, meist einzeln, manchmal alle gleichzeitig. Was sie berichten, ist banal wie der Alltag, vieles persönlich, manchmal baden sie oder putzen. Regelmäßig brechen sie - aus Prinzip - in Gelächter aus, Lachen ist ansteckend wie das Virus. Auch Aufgaben für die Zuschauer gehören dazu, etwa Verstorbener gedenken. Und zu jeder vollen Stunde wird auf der Straße ein Mensch angesprochen und live auf die Bühne zugeschaltet. Dann passiert etwas Tolles oder nicht.
Von all den Versuchen, mit dem Publikum in Kontakt zu treten, Gemeinschaft herzustellen, war diese performative Dauer-Liveschalte der bisher unangestrengteste, tröstlichste (das Theatertreffen geht noch bis 24.5.). Diese Künstler waren einfach da, sie machten was und machten immer weiter. Man konnte nebenher ohne schlechtes Gewissen andere Dinge tun, kochen, aufräumen - und sich dann wieder bei ihnen einfinden, zum gemeinsamen Lachen oder Gedenken. Zum Feiern der Lebens- und Überbrückungskunst.