Berlin-Exilanten:Abwarten in Klein-Istanbul

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Der türkische Regisseur Mustafa Altıoklar (li.) in seiner Schauspielschule B'ACT Academy in Berlin-Kreuzberg. (Foto: Timo Lehmann)

Viele Künstler und Intellektuelle, die wegen Präsident Erdoğan ihr Heimatland verlassen haben, kommen nach Berlin. Wie geht es ihnen dort?

Reportage von Timo Lehmann

Yıldız Çakar war kaum in Berlin angekommen, da erhielt die kurdische Schriftstellerin im Januar 2017 eine Botschaft ihrer Familie: Sekretäre, Mitarbeiter und andere Mitglieder ihres Vereins für kurdische Autoren seien in Diyarbakır verhaftet worden, dem für die Kurden wichtigsten Ort im Südosten der Türkei, sie nennt es Kurdistan. Yıldız Çakar war nach Berlin gekommen, um an einer Konferenz für Literatur teilzunehmen, reiste nur mit Handgepäck. Nach dem Anruf ihrer Familie war klar: Sobald sie in der Türkei aus dem Flugzeug steigen würde, erwarteten auch sie die Handschellen. "Propaganda für eine terroristische Vereinigung" wirft man ihr vor. Seit fünf Monaten sitzt die Autorin deshalb in Berlin fest. Sie lebt in einer Flüchtlingsunterkunft in Kreuzberg.

"Ich schreibe hier keine Zeile", sagt Çakar, die schon mehrere Romane und hunderte Gedichte veröffentlicht hat. In einem Café in Berlin-Mitte knetet sie nervös ihre Hände. Selbst in Deutschland wird sie von Anhängern des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angesprochen - ob der türkische Geheimdienst ihr nachspürt, weiß sie nicht. Ihr Mann und ihre Kinder, die die Türkei nicht verlassen dürfen, stehen täglich in Kontakt mit ihr. Das Leben von Yıldız Çakar ist aus den Fugen geraten.

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Berlin, das ist heute die Stadt der türkischen Diaspora. Jene Künstler, Musiker, Maler, Regisseure, Intellektuelle, Autoren, Journalisten, die mit der türkischen Regierung aneinander geraten oder deren Freiheit der Staat so sehr einschränkte, dass ihre Existenz als Kulturschaffende in der Türkei nicht mehr möglich ist, finden in Berlin eine Bleibe. Von einer "New Wave", einer neuen Welle türkischer Einwanderer nach Deutschland sprechen die Exilanten. Ein Teil ging nach Paris, London und New York, doch Berlin bietet für die meisten die besten Bedingungen: eine internationale Szenerie, bezahlbare Mieten, ein türkisches Kulturleben, an das sie anknüpfen können. Erstmals nach Jahrzehnten der Einwanderung aus dem ländlichen Raum der Türkei, kommt nun auch ein Teil der Istanbuler Intelligenzija nach Deutschland. Allein im Mai beschieden deutsche Behörden 750 Asylanträge von Türken positiv. Berlin-Kreuzberg ist die Hochburg der neuen Berliner. Seit den Sechzigerjahren leben in dem Stadtteil sehr viele Menschen mit türkischem Hintergrund. "Küçük Istanbul" nennen sie Kreuzberg, "kleines Istanbul".

2014 diagnostizierte Mustafa Altıoklar Erdoğan eine narzisstische Persönlichkeitsstörung

Einer der in der Türkei prominentesten Neuwahlberliner ist der Regisseur Mustafa Altıoklar, 56 Jahre alt, Muskelberg. Einer, der beim Händedruck charmant lächelt und kräftig zudrückt. Mit seinem intelligenten und sensiblen Gangstarfilm "Ağır Roman" von 1997, verortet in einem verarmten Viertel Istanbuls, schrieb er türkische Kinogeschichte. Doch seit Jahren gerät er immer wieder mit der seit 2003 amtierenden AKP-Regierung Erdoğans in Konflikt. Der Filmemacher versteht sich als Oppositioneller, er hängt dem linken Flügel der sozialdemokratischen und säkularen Partei CHP an. Die AKP verdrängt die alten Granden der türkischen Kulturszene aus der Öffentlichkeit. Altıoklar ließ sich das nicht gefallen.

Ursprünglich hatte der Regisseur Medizin studiert, in einem Interview mit einer türkischen Zeitung im April 2014 diagnostizierte er Erdoğan eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Prompt wurde er wegen Beleidigung vor Gericht gebracht. Dort sagte Altıoklar, er würde sich selbst diese Diagnose stellen, "aber ich regiere auch kein Land". Das Gericht verurteilte ihn zu acht Monaten Haft auf Bewährung. Weitere Anklagen stehen aus.

Schon vor fünf Jahren bezeichnete der türkische Kulturminister die heimische Kunstszene als den "Hinterhof des Terrorismus". Aktivisten, Intellektuelle und Künstler, die der Regierung kritisch gegenüber stehen, werden immer häufiger eingesperrt, bekommen oft nicht mal einen Prozess. Seit dem Putschversuch im letzten Jahr und der Ausrufung des Ausnahmezustands hat die Regierung freie Hand, unliebsame Kritiker inhaftieren zu lassen.

Der Staat reguliert inzwischen auch das Filmgeschäft, Altıoklar verlor Zuschüsse und Kapitalgeber. "Sie haben mir meine Existenzgrundlage genommen. Ich hatte keine andere Wahl: Ich musste gehen." In Kreuzberg eröffnete er im Oktober 2016 die kleine Schauspielschule "B'ACT Academy". Er unterrichtet hier, es gibt einen eigenen Klassenraum. Andere Exilanten kommen als Gastdozenten. Inzwischen werden zwei Klassen mit jeweils 20 Schülern in Abendkursen unterrichtet.

Einige der türkischen Künstler in Berlin verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft, andere haben sich erst in Deutschland kennengelernt. Vor einigen Wochen traf Altıoklar den Karikaturisten Serkan Altuniğne. Als Zeichner arbeitete der für das Satiremagazin Penguen, das von der türkischen Regierung über Jahre mehrfach verklagt wurde. Schon 2015 verurteilten Gerichte zwei Autoren des Hefts zu elfmonatigen Gefängnisstrafen. Im Mai 2017 musste die Redaktion schließen. Serkan Altuniğne fand in der Türkei keine Arbeit mehr und ging nach Berlin.

Einige Türken, die das Land verlassen haben, können sich auf alte Kontakte in Deutschland beziehen. Etwa der kurdische Drehbuchautor Önder Çakar, der ebenfalls nicht zurück in die Türkei reisen kann, weil ihm eine Haftstrafe wegen einer seiner Filme über das kurdische Gebiet droht. Derzeit arbeitet er mit Fatih Akin an einem Film über die Verteidigungsschlacht der Kurden um den syrischen Ort Kobanê im Jahr 2014. Auch ihm wird eine Verbindung zum Terror vorgeworfen.

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Nicht alle der Exilanten verstehen sich als politische Oppositionelle - viele wollen abseits der aufgeladenen Stimmung in der Türkei in Deutschland wieder Kraft und Raum für ihre Arbeit finden. Wie viele türkische Exil-Künstler nach Deutschland gekommen sind, lässt sich nicht sagen. Einige leben mit Flüchtlingsstatus in Deutschland, andere mit Arbeits- oder Studentenvisa. Viele hängen auch in der Türkei fest, weil die nach wie vor versprochene Visa-Liberalisierung ausblieb. Die EU hatte entschieden, nur dann den Türken Visafreiheit zu gewähren, wenn die türkische Regierung ihre Anti-Terrorgesetze entschärft. Das Paradoxon: Ausgerechnet jenen, die unter den scharfen Gesetzen leiden, erschwert man damit die Ausreise. Außenminister Sigmar Gabriel erwog schon vor Monaten, die Einreiseregelungen für Wissenschaftler, Unternehmer und Künstler aus der Türkei zu entschärfen. Passiert ist von EU-Seite bisher nichts.

Die meisten türkischen Künstler, die es ins Ausland geschafft haben, wollen bei Besserung der Lage so schnell wie möglich wieder zurückkehren, andere stellen sich darauf ein, länger bleiben zu müssen.

Kontakte zur deutschen Bevölkerung bestehen vor allem zu türkeistämmigen Kulturschaffenden

Eine Gruppe von 30 Künstlern um den Regisseur Mustafa Altıoklar will in den kommenden Wochen einen Verein für türkische Exilanten gründen. In Kreuzberg vor der Schauspielschule sitzt Altıoklar mit dem armenischen Schriftsteller und Journalisten Hayko Bağdat und dem Drehbuchautor Barış Pirhasan. Berlin zerschmilzt vor Hitze, der Schweiß perlt auf der Stirn. Die Männer beklagen sich, scherzen, in Berlin sei es an diesem Tag drei Grad heißer als in Istanbul. Die drei diskutieren, wie der Verein aufgebaut werden soll. Regelmäßig treffen sich die Exilanten. Kontakte zur deutschen Bevölkerung bestehen vor allem zu türkeistämmigen Kulturschaffenden, etwa zu der in München geborenen Fernsehschauspielerin Hürdem Riethmüller. Über soziale Medien bleiben sie in Kontakt mit ihren Landsleuten in der Türkei, verbreiten via Facebook und Twitter ihre regierungskritischen Meinungen.

Zu der Gruppe um Altıoklar gehören Künstler aus unterschiedlichen politischen Lagern, linke Kemalisten, kurdische Aktivisten, Armenier - Personen, die sich in der Türkei politisch bekämpften. "Wir teilen ein Schicksal", sagt Mustafa Altıoklar, das schweiße zusammen. In ihrem Verein soll es darum gehen, Ankommenden einen Anlaufpunkt zu bieten und ihnen zu helfen, mit den deutschen Behörden klar zu kommen - unabhängig von politischen Präferenzen.

Mitten in Kreuzberg, im Café am Engelbecken, schwelgen die Türken in nostalgischen Erinnerungen über ihr Leben in Istanbul. Die meisten wohnten in den Vierteln rund um den Taskimplatz und der Istiklal, jener größten Fußgängerstraße der Metropole, in deren Abzweigungen sich hunderte Bars, Cafés, Kinos und Galerien befinden, die zunehmend verschwinden. Die Istiklal in Istanbul, sie galt als liberale Lunge des Landes. Und das wird sie auch wieder, glaubt Mustafa Altıoklar. Bis es so weit ist, verweilt die Diaspora in den Cafés von Berlin-Kreuzberg, ihrem "kleinen Istanbul".

© SZ vom 08.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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