Popkolumne:Kopf hoch, zurücklehnen, stark sein

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Na, welche beiden Songs stehen wohl wieder an der Spitze der deutschen Single-Charts? Genau. Der andere ist von "Wham!". (Foto: Lev Radin/imago images/Pacific Press Agenc)

Neue Musik von Benny Sings, Jeff Parker und Neil Young - und die Antwort auf die Frage, wer auf den Song-des-Jahres-Listen ganz vorne steht.

Von Jens-Christian Rabe

(Foto: N/A)

Wenn man Musik schätzt, mit der man sich schön funky uneigentlich durch den Tag schaukeln lassen kann, dann kann es nur ein Album der Woche geben: "Beat Tape II" (Stones Throw) vom niederländischen Lo-fi-R'n'B-König Tim van Berkestijn alias Benny Sings. Zum vorangegangenen, erst im April erschienenen Album "Music" des Sängers, Rappers, Produzenten und Songwriters konnte man sehr gut in Gedanken am Pool liegen und mit zusammengekniffenen Augen der Luft beim Flimmern zusehen. Zu neuen somnambul beschwingten Songs wie "Look What We Do" oder dem grandiosen "Beat 100", die im besten Sinn so klingen, als seien sie gerade eben erst aus dem Beat-Bastelkasten herausgepurzelt, fühlt sich der Weg vom Kühlschrank zur Couch so an, als teilte sich im Club die Menge, wenn man sich mit einem neuen Drink zur Tanzfläche aufmacht. Na gut, mit zusammengekniffenen Augen wenigstens.

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Ansonsten hat die list-season begonnen, die Zeit des Pop-Jahres, zu der überall die Listen mit den Alben und den Songs des Jahres veröffentlicht werden. Vielbeachtet und wie immer früh dran mit seinen 20 Songs des Jahres ist der britische Guardian. Auffällig ist in diesem Jahr, dass sich unter den Top-Ten kein einziger Song eines männlichen Pop-Künstlers findet. Zum Song des Jahres küren die Kollegen "I Do This All The Time" von der britischen Sängerin und Avantgarde-Pop-Songwriterin Rebecca Lucy Taylor alias Self Esteem. Weniger ein Song, als ein eindringlicher Selbstsorge- und Lass-Dich-bloß-nicht-unterkriegen-Monolog über Beats samt gospelhaft gewaltigem Refrain: "Look up / Lean back / Be strong!" Kopf hoch, zurücklehnen, stark sein. Keine Frage, Musik als Losung zur Zeit. Mindestens so zeitgemäß, aber ungleich mehr Schwung und Witz hat auf dem zweiten Platz allerdings "Chaise Longue" des britischen Indie-Rock-Trios Wet Leg. Hat man ja überhaupt noch nie besser genervt-genölt gehört diesen Vers des Jahres: "On the chaise longue / on the chaise longue / on the chaise longue / All day long / on the chaise longue". Auf dem dritten Platz landet beim Guardian der passable, aber eigentlich gar nicht so auffällige, leicht avantgardesk angekrisselte Mainstream-Pop-Song "Bunny Is A Rider" der amerikanischen Sängerin und Songwriterin Caroline Polachek, der jedoch wiederum beim wichtigsten Online-Musikmedium Pitchfork ganz vorne landet. Bis auf "Bunny Is A Rider" überschneiden sich die beiden meistbeachteten Listen in diesem Jahr nicht, was bei einem Pop-Jahr, dem die wirklich aufsehenerregenden Geniestreiche eher fehlten, aber auch kein Wunder ist. Dass allerdings nirgends Lordes Hit "Solar Power" weit vorne auftaucht, ist dann doch erstaunlich.

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Der unermüdliche Neil Young hat für sein 41. Studio-Album "Barn" (Reprise/Warner) mal wieder seine alte Band Crazy Horse aktiviert. Es heißt, man habe es diesen Sommer bei Vollmond in einer restaurierten Scheune aus dem 19. Jahrhundert in den Rocky Mountains aufgenommen. Auf dem Cover ist eine seltsam überdimensionierte Blockhütte zu sehen, vor einem Sonnenuntergang, den Bob Ross nicht kitschiger gemalt hätte. Da soll den alten Folkrockisten offenbar schon ganz warm ums Herz werden, bevor sie auch nur einen Ton gehört haben. Vollmond! Rocky Mountains! 19. Jahrhundert! 19. Jahrhundert? Was hat der Folkrock der 1970er eigentlich mit dem 19. Jahrhundert zu tun? Egal, die große Folkrockkunst war es ja immer auch, Musik aus einer Vergangenheit zu erfinden, die es gar nicht gegeben hat. Ein Glück immerhin, dass die ewig dünne Stimme von Neil Young und die schiere schleppend-kratzige Wucht seiner Arrangements noch jeden seiner Songs vor Kitsch bewahrt hat. Anders gesagt: Auf "Barn" ist Neil Young mal wieder auf außergewöhnlich hohem Niveau nicht besonders inspiriert.

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Das böse Wort heißt Fahrstuhlmusik. Aber Popmusik als Soundtrack für Alltagserledigungen und Seelenmassagen aller Art - das ist eigentlich ein nobler Zweck. Es ist mitunter ja dringend geboten, sich nebenbei mit subtilem Synthiegezwitscher das Hirn ein wenig zu betäuben. Hauptsache nicht zu genau hinhören. Es gibt aber natürlich auch im Pop genau das Gegenteil: Musik, die erst dann nicht mehr stört, wenn man ihr wie einem Hörspiel aus Klängen lauscht. Der amerikanische Avantgarde-Pop- und Post-Rock-Gitarrist Jeff Parker, ehemals Gitarrist der gefeierten Post-Rock-Band Tortoise, macht solche Musik auf seinem neuen Album "Forfolks" (International Anthem) - und zwar allein mit einer unverzerrt gespielten semiakustischen E-Gitarre. Ist ja doch auch noch einmal eine ganz andere Ruhe, die sich finden lässt, wenn man auf seinem Trommelfell zur Abwechslung mal nicht nur blinder Passagier sein will.

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Und zum Schluss die Frage der Woche: Pünktlich zur Weihnachtszeit stehen welche beiden Songs an der Spitze der deutschen Single-Charts? Genau, "All I Want For Christmas Is You" von Mariah Carey und "Last Christmas" von Wham!. Man weiß nicht recht, ob man deshalb Trost empfinden oder eine Panikattacke bekommen soll. Womöglich macht man mit einer Mischung aus beidem in diesen Tagen emotional nichts falsch. Advent, Advent!

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