Belletristik:Die Lupe der Sehnsucht

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Überscharfe Wahrnehmung, somnambule Trance und geballte Gegenwart: Anja Kampmann erzählt in ihrem grandiosen Debütroman "Wie hoch die Wasser steigen" von der Odyssee eines modernen Wanderarbeiters.

Von Helmut Böttiger

Das Besondere an diesem Buch ist, dass es zugleich unbedingt im Heute und in einer nicht genau zu umreißenden, fernen Zeitlosigkeit spielt. Und es ist die Sprache, die aus hoch technisierten Abläufen auf Ölbohrplattformen im offenen Meer und einer archaischen Existenz im Gebirge dieselben poetischen Funken schlagen kann. Wie bei allen literarischen Texten, die auch nach der Lektüre noch im Kopf bleiben, kommt es nicht so sehr auf eine Handlung an, die sich nacherzählen lässt, sondern auf die Atmosphäre und die Worte, in denen und mit denen sie spielt. Dabei passiert viel.

Waclaw arbeitet unter schwierigsten, mitunter auch lebensgefährlichen Bedingungen auf Bohrinseln, die über die ganze Welt verstreut sein können, bei globalen Konzernen, welche die Bedingungen diktieren und die frühere Sklavenhaltergesellschaft nahtlos ins computergesteuerte und coole Selbstvermarktungs-Business des 21. Jahrhunderts überführen. Mit seinem Freund Mátyás befindet er sich gerade in einem Niemandsland vor der marokkanischen Küste. Als sie einem Sturmtief ausgeliefert sind, das von den Färöer-Inseln im Norden ausgeht, kommt Mátyás unter ungeklärten Umständen auf seiner Schicht um. Dieser Tod löst eine Odyssee Waclaws aus. Sie führt ihn zu verschiedenen Stationen, die alle etwas mit seinem Leben zu tun haben - doch wie wenig greifbar dieses Leben geworden ist, stellt sich erst im Lauf der Zeit heraus.

So, wie die Orte und Zeiten in einem imaginären Raum zwischen Marokko und den Färöer-Inseln schwanken, ist auch Waclaw eine unsichere, nicht greifbare Figur. Manchmal wird sie unvermittelt "Wenzel" genannt, wie um auf eine andere, unerzählte Geschichte zu verweisen. In Nahsicht und sehr plastisch wird die Tätigkeit auf hoher See geschildert, realistisch und in Großaufnahme - doch Waclaw/Wenzel bewegt sich eher wie eine Kunstfigur durch die Szenerie, wie eine phantasmagorische Gestalt, die Erinnerungen aus der Literaturgeschichte mit sich herumzuschleppen scheint und doch eine ganz konkrete Biografie hat. Dies ist eine der vielen Eigenarten dieses Romans, der eine unsichtbare Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zieht und das zeitgenössische Bewusstsein in einer fremden Art und Weise umreißt.

Waclaw, der zum Zeitpunkt des Geschehens 52 Jahre alt ist, stammt aus dem Ruhrpott. Seine Familie war aus Polen eingewandert, und dass er mit seiner Freundin Milena als Erstes ausgerechnet in ein kleines Dorf bei Poznań ausgerissen ist, wirkt im Nachhinein wie ein Versuch, eine Identität wiederzufinden, die er natürlich nie hatte. Immer wieder tauchen derlei Bruchstücke aus seiner Biografie auf - das Aufwachsen in einer Zechensiedlung in Bottrop, das Leben mit Milena in Wiórek, die erste Anwerbung als Bohrarbeiter.

Das Motiv der Brieftauben verbindet den Ruhrpott und ein stehen gebliebenes Italien

Solche weit zurückliegenden Momente blitzen als isolierte Erinnerungsmomente immer wieder auf. Langsam gibt sich ein Lebensfaden zu erkennen, der aber irgendwie abgerissen zu sein scheint. Als Waclaw nach dem Tod des Freundes seinen Arbeitsplatz verlässt, erlebt er die marokkanische Küste und die Stadt Tanger in einzelnen, glühenden Wahrnehmungssplittern. Es gibt die Felsen am Strand, eine Bar, eine wäscheaufhängende Frau auf der Terrasse des Hauses, in dem er mit Mátyás ein Zimmer gemietet hatte. Größere Zusammenhänge entziehen sich ihm. Er nimmt vor allem den jeweiligen Augenblick wahr. Dieser aber wird wie durch eine Lupe gesehen, entfaltet eine große sinnliche Kraft, und dadurch entsteht ein eigenartiger Sog. Die große Erzählung ist nicht mehr möglich. Die einzelnen Eindrücke stieben auseinander, sind dabei aber ungemein intensiv.

Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2018. 349 Seiten, 23 Euro. E-Book 16,99 Euro. (Foto: N/A)

Es sind nicht nur die Orte, die Waclaw aufsucht und die ein düster changierendes Bild ergeben: das Dorf in der Puszta, mit Mátyás' älterer Schwester Patricia. Malta, wo er aus steuerlichen Gründen gemeldet ist und wo in einer heruntergekommenen Autowerkstatt die persönlichen Dinge gelagert sind. Und vor allem das alte steinerne Haus an einem Hang im italienischen Gebirge, wohin sich Alois zurückgezogen hat, der nun "Enzo" heißt und der Freund des Vaters und Waclaws Ankerpunkt in Kindheit und Jugend war. Das Motiv der Brieftauben verbindet den Ruhrpott und ein stehen gebliebenes Italien. Es sind Orte, die Waclaw mit einer überscharfen Wahrnehmung und zugleich in somnambuler Trance aufsucht. Sie geraten ins Flirren, weil die Sätze, Absätze und Kapitelfolgen dieses Buches viele Leerstellen eröffnen. Anja Kampmann, die 1983 in Hamburg geboren wurde und in Leipzig lebt, hat bisher einen Gedichtband vorgelegt, und auch ihr erster Roman ist aufgebaut wie ein Gedicht: mit Resonanzräumen, mit Aussparungen, mit einer andeutenden, vieldeutigen, kristallklaren Sprache.

Vor allem die Vergleiche fallen auf - eine stilistische Eigenheit, die ziemlich riskant ist und spätestens seit Gottfried Benn nicht mehr als sprachliches Erkenntnisinstrument gilt. Hier aber haben Vergleiche eine ganz besondere Funktion. Sie schaffen eine künstliche Ebene, eine literarische Binnenstruktur, welche die Entwirklichung des "Helden" Waclaw ins Bild setzt, ohne erklärende Umschreibungen nötig zu haben. Gleich am Anfang fallen Waclaw während der Reden eines Vorgesetzten "Vögel" ein, "die Regen imitieren, um Würmer aus dem Erdreich zu locken".

Waclaw empfindet seine Heimat wie eine Westernstadt, der das Schwarz-Weiß ausgetrieben wurde

Bei Überlegungen, an welchen Orten Öl vorkommt, denkt Waclaw "an die Spuren der Gletscher auf dem Meeresgrund, an die Kontinente, die sich aufeinander zubewegen mit der Geschwindigkeit, in der ein Fingernagel wächst". Und die Frauen im Ruhrpott, die nach dem ersten Kind zu Hause geblieben waren, erleben "Tage, blass und still wie die Früchte in einem Rumtopf". Waclaw hat nichts, woran er sich festhalten kann: keine Familie, keine Herkunft, kein Arbeitsumfeld und keine sicheren Gefühle. Die Sprache, mit der er in diesem Roman gezeichnet wird, drückt dies aus, ohne es zu benennen.

Auch seine sexuelle Orientierung ist diffus. Waclaw wirkt wie eine Theaterfigur, die in eine magische Szenerie hineingestellt ist und ein heutiges Lebensgefühl in widersprüchliche, aber große Formen gießt. Seine Fußwanderung durch Italien und die anschließende Autofahrt ins Ruhrgebiet hat etwas Überpersönlich-Imaginäres. Und es gibt dabei ein großes Bild für die Sehnsucht: Alois, Waclaws Bezugsperson seit der Kindheit, züchtet an seinem italienischen Fluchtpunkt nach wie vor, wie früher im Kohlenpott, Brieftauben. Dies ist ein zentrales Motiv des Romans, ein Symbol, das alles verdichtet. Alois bittet Waclaw, die Taube, die er dafür am geeignetsten hält, mit über die Alpen zu nehmen und auf einer übrig gebliebenen Abraumhalde im Ruhrgebiet aufsteigen zu lassen - mit der Hoffnung, sie finde den Weg zurück. Dieses Motiv variiert der Roman in vielen überraschenden Wendungen, und dass Waclaw zum Schluss in einer mehrfach gebrochenen Coda sich selbst als Taube imaginiert, bildet dabei den Höhepunkt.

Es gibt etliche Szenen in diesem Roman, die sich einprägen; sie sind nicht sofort auszuschöpfen. Als Lebensgefühl bleibt zurück, dass die alte Vorstellung der Insel, als sicheres Rückzugsgebiet und Möglichkeit des Abseits, jetzt die Formen einer künstlichen Bohrinsel angenommen hat. Und es ist global verfügbar, auf dem Bahnsteig im sizilianischen Catania genauso wie im Ruhrgebiet nach einer langen Zeit der Abwesenheit. Waclaw empfindet seine Heimat wie eine "Westernstadt", der das Schwarz-Weiß ausgetrieben wurde. Trostlos sind der Bolzplatz, "in den investiert worden war", und die Trikots der Jungs, "die Farben wie mit Glutamat versetzt". Man schmeckt in diesem Roman die Gegenwart.

© SZ vom 29.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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