Annalena Baerbock besteht darauf, dass sie "kein Sachbuch" geschrieben habe, und sie meint das defensiv. An ein Sachbuch, so heißt das, werden gewisse Maßstäbe gelegt, was Sorgfalt und Überprüfbarkeit angeht. Ayaan Hirsi Ali hat ebenfalls kein Sachbuch geschrieben. Die Frage ist nur: Was hat sie dann geschrieben?
An den Fußnoten liegt es bei Ali jedenfalls nicht. Der Anmerkungsapparat ihres Buches "Beute" umfasst 50 Seiten und enthält Verweise auf Samuel Huntington, Alice Schwarzer, Necla Kelek oder Kamel Daoud. Viele zitiert Ali aus persönlichen Gesprächen. Sie hat sich Mühe gegeben, das Thema ist ihr wichtig.
Ayaan Hirsi Ali, geboren 1969 in Somalia, vor einer Zwangsheirat in die Niederlande geflohen, musste erleben, wie der niederländische Regisseur Theo van Gogh nach dem gemeinsamen Film "Unterwerfung" 2004 von einem Salafisten ermordet wurde. Inzwischen lebt sie in den USA. Unter Polizeischutz steht sie noch immer, und noch immer beschäftigt sie vor allem ein einziges Thema: Die Gefahr des Islam für den Westen, genauer muslimischer Männer für westliche Frauen. "Beute" ist das Update nach dem Zustrom der Flüchtlinge 2015. Alis These, leicht zugespitzt: Alles, was vorher schlimm war, wurde nach 2015 noch schlimmer.
Zahlen nützen leider wenig, wenn man mit ihnen herumschlampt
Vieles, was man von ähnlichen Titeln kennt, findet sich auch in ihrem Buch: die Klage über die gefährliche Naivität des Westens, der Gestus sorgenvollen Mahnens, der Wissensvorsprung als muslimische Insiderin und natürlich Statistiken. Aber so wenig seitenlange Anmerkungen wissenschaftliche Stichhaltigkeit garantieren, so wenig nützen Zahlen, wenn man mit ihnen herumschlampt.
Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch habe behauptet, dass im Jahr 2017 illegal eingereiste Migranten 447 Tötungsdelikte und Morde verübt hätten, führt Ali an. Das Bundesinnenministerium spreche zwar nur von 27 Morden oder Mordversuchen von Illegalen, "aber wenn man alle Asylbewerber und Flüchtlinge" mitzähle, komme man tatsächlich auf die Zahl 447. Wenn man alle Verbrechen von allen Einwanderern seit der Währungsreform mitzählt, kommt man sicher zu einem noch viel alarmierenden Ergebnis.
Eine Studie des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2004 hat die Gewalt gegen Frauen untersucht, darin wurden Türkinnen und Osteuropäerinnen besonders häufig Opfer körperlicher Gewalt. Alis Schluss daraus: "Bereits vor der großen ,Völkerwanderung' von 2009 bis 2018 bot die Gewalt, die unter der muslimischen Bevölkerung in Deutschland gegen Frauen ausgeübt wurde, Anlass zur Sorge." Und was ist mit den Osteuropäerinnen?
Anderes Land, andere Studie, gleicher Effekt: Die Wahrscheinlichkeit, dass in Schweden ein Einwanderer eines Sexualdelikts verdächtigt wurde, lag im Jahr 2005 fünfmal so hoch wie bei einem "gebürtigen Schweden". Aber die Frage, was daran auf eine Tat hinweist, was reines Ressentiment ist, streift Ali nicht einmal.
So könnte man weitermachen, könnte all die krummen Kurven, die selektiven Evidenzen der Statistiken Stück für Stück wieder geradebiegen, wären die methodischen Mängel nicht an anderer Stelle ähnlich bedenklich. Dass Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer als ein Kronzeuge für "Problemfälle" unter den Asylbewerbern auftritt ("Sie empfinden keinen Respekt und keine Dankbarkeit für die deutsche Gesellschaft"), mag qua Amt eine gewisse Logik haben.
Aber was beweist die Beobachtung einer Rentnerin, die in München hobbymäßig Gerichtsprozesse besucht und festgestellt hat, "dass viele Asylbewerber und Flüchtlinge (...) wegen gewaltsamer Übergriffe vor Gericht" stehen? Wie belastbar ist es, wenn ein afghanischer Ex-Polizist wiederum einen Syrer zitiert, der gesagt haben soll: "Jemand muss auf uns (Einwanderer) aufpassen (...).Wir können mit so viel Freiheit nicht umgehen."
Unrecht an Frauen wird für sie erst relevant, wenn Muslime im Spiel sind
Für Ali ist damit alles gesagt. Der Zuzug unbeaufsichtigter muslimischer Einwanderer, "ungehemmter junger Männer", gefährde Errungenschaften, die einzig der Westen Frauen biete: Gleichberechtigung, Mobilität und Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. So vernichtend ihr Urteil über die islamische Welt ausfällt, so ausgreifend ihr Essenzialismus ist, der die jahrhundertealten Schulen des Islam behandelt, als habe es seitdem keine Entwicklung gegeben, in keinem Land, nirgends, so irreführend es ist, dass sie Länder wie Saudi-Arabien und Iran nicht als Extreme, sondern als Zukunftsszenarien für Europa darstellt, so sehr verklärt sie die westliche Gesellschaft.
Diese Begeisterung ist manchmal komisch. Eine 39-jährige Oldenburgerin, Nicola, beschreibt sich als früher offenen und vertrauensvollen Menschen, aber nach unangenehmen Begegnungen mit Muslimen hat sie jetzt ein Pfefferspray in der Tasche und meidet bestimmte Wege. Ali trifft Nicola "in ihrem schönen Wohnzimmer", gekleidet in eine Bluse mit Blumenmuster, das rotbraune Haar "zu einem Chignon hochgesteckt", der kleine Sohn spielt auf dem Fußboden: Sie "wirkten für mich wie der Inbegriff moderner Europäer: Der Ehemann beteiligte sich an der Kindererziehung und unterstützte die Berufstätigkeit der Frau". Man kann zur sogenannten weißen Mehrheitsgesellschaft stehen, wie man will - diesen Kitsch hat sie nicht verdient.
Das Schlimmste an Alis Buch aber sind nicht Passagen wie diese, nicht ihre abenteuerlichen Ausflüge in die islamische Theologie und auch nicht ihr vermeintliches Aufdecken einer "Verschwörung des Beschweigens" über die Gefahr durch muslimische Männer - als gäbe es tatsächlich ein Tabu, als hätten diffuse Ängste in Deutschland nicht längst liberalste Frauen ergriffen. Das Schlimmste an "Beute" ist, dass es so frauenfeindlich ist.
Die "Me Too"-Bewegung? Zu viel Lärm um die "Missetaten von ein paar hundert prominenten Personen". Die Bemühungen von Feministinnen zur "Beendigung des Patriarchats" oder zur Gleichstellung am Arbeitsmarkt? Lediglich "elitäre Anliegen". Einzig sie, Ayaan Hirsi Ali, kenne den "Alltag der Durchschnittsfrau", wolle aber heutige Feministinnen nicht verspotten sondern "aufwecken", was dann doch etwas an das Sendungsbewusstsein von Verschwörungstheoretikern erinnert.
An erster Stelle müsse das Recht aller Frauen stehen, frei von Gewalt zu leben, schreibt Ali, und man würde ihr von Herzen beipflichten, wenn sie nicht auf so empörende Weise außer Acht lassen würde, wo Frauen die größte Gefahr droht: Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann, seine Frau, Freundin oder Ex-Partnerin umzubringen, und zwar über alle Schichten, Klassen, Religionen und Ethnien hinweg.
Expertinnen sind sich einig, dass die Aufmerksamkeit höher ist, wenn der Täter Muslim, Flüchtling oder Migrant ist und das Verbrechen als Ausdruck einer "rückständigen, patriarchalen Kultur" gewertet werden kann. Seien Täter oder Opfer aber deutschstämmig, werden die Femizide romantisiert, sprechen Behörden, Justiz und Medien von einer "Familientragödie", einer "Beziehungstat", einem "Eifersuchtsdrama". "Kultur ist meist nur die Kultur von anderen", so hat die Politologin Monika Schröttle festgestellt.
Bei Ayaan Hirsi Ali hat diese Deutung Züge einer fixen Idee. Unrecht an Frauen wird für sie erst relevant, wenn Muslime im Spiel sind. Ansonsten sind alle Gewalttaten und Benachteiligungen nicht der Rede wert, gemessen an den strahlenden Errungenschaften des Westens. So kann man Machtverhältnisse auch betonieren. Es ist nicht schön, aber auch nicht ganz selten, dass Frauen frauenfeindliche Politik betreiben.
Ayaan Hirsi Ali möchte nicht auf ihre Biografie reduziert werden, ihr Anspruch ist kein persönlicher, sondern ein universeller. Damit entfallen die mildernden Umstände. "Beute" ist ein Ärgernis, wenn auch möglicherweise ein lukratives. Der Markt für Bücher mit islamkritischem Furor ist riesig. Probehalber seien hiermit zwei weitere, wahrscheinlich publikumswirksame Titel angeregt: "Warum Muslime schuld am Klimawandel sind." Und: "Islam macht dick".