Autobiografie:Deutscher als jeder Deutsche

Ijoma Mangold

Was heißt schon Assimilation, wenn man ohne den Vater in den späten Jahren der Bundesrepublik aufwächst? Der Kritiker Ijoma Mangold, Jahrgang 1971.

(Foto: Sebastian Hänel)

Mutter aus Schlesien, Vater aus Nigeria: Und der Sohn wird zum Wahrer deutschen Kulturerbes. Der Literaturkritiker Ijoma Mangold fragt sich in seiner Autobiografie: "War ich überassimiliert?"

Von Kristina Maidt-Zinke

Wenn das literarische Genre des "Memoirs" weiter so boomt, werden bald immer mehr Menschen in immer jüngeren Jahren ihre vorläufige Autobiografie verfassen. Im Prinzip ist natürlich jedes Leben, sogar jeder Lebensabschnitt erzählenswert; es kommt auf die Perspektive und auf die Art der Darstellung an. Wer von Berufs wegen die Kunst des Schreibens pflegt, hat hier die besseren Karten. Unter jenen, auf die das zutrifft, dürften indes nur wenige über einen so ungewöhnlichen Lebensstoff verfügen wie Ijoma Mangold, einer der bekanntesten deutschen Literaturkritiker, früher bei der SZ, heute bei der Zeit, der 1971 in Heidelberg geboren wurde, bei seiner Mutter aufwuchs und erst als Erwachsener seinen nigerianischen Vater, dessen Familie und die Hintergründe seiner eigenen Herkunft kennenlernte.

Wenn Mangold diese Konstellation, vor allem aber deren Auswirkungen auf seine Weltsicht und seinen Werdegang, jetzt in einer Erzählung öffentlich macht, entspricht das einem Bedürfnis nach Rückschau, Klärung und Selbstvergewisserung, das er mit vielen Generationsgenossen teilt. Das Individuelle, Besondere seiner Biografie verknüpft er jedoch, immer wieder ins Essayistische ausgreifend, so geschickt mit Fragen und Reflexionen von allgemeinem Interesse, dass das Buch mit dem charmanten Titel "Das deutsche Krokodil" viel mehr geworden ist als eine persönliche Geschichte: Es ist zugleich ein Gesellschafts- und Epochenporträt en miniature, und es kann Themen für anregende Debatten liefern.

Das Titeltier prägt die Jugend des Autors in zwei Gestalten. Als E-Lok der Märklin-Baureihe 194 ist das "deutsche Krokodil" für den jungen Eisenbahnfreund ein Objekt der Begierde, bis er es eines Tages unter dem Christbaum findet. Eigentlich hätte er, qualitätsbewusst von Kindesbeinen an, den schweizerischen Typ bevorzugt, der länger und stärker ist, doch beim Wunschzettelschreiben schont er rücksichtsvoll den Geldbeutel der Mutter. Das andere, problematischere Krokodil steht als Ebenholzskulptur auf dem Fenstersims im Dossenheimer Wohnzimmer: "Als wäre es seine Pflicht, jeden daran zu erinnern, dass dieser Haushalt eine besondere Verbindung zu Afrika pflegt."

Was "der Junge", wie der Protagonist anfangs genannt wird, als beklemmend und peinlich empfindet, ist darin doch die Erinnerung an sein Anderssein enthalten, das er am liebsten verdrängen würde. Dem Verdrängen aber wird in diesem Haushalt professionell entgegengewirkt: Die Mutter ist "Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin", ein Wortungetüm, das der Junge bei manchen Gelegenheiten ebenfalls als ausgrenzend erlebt, genau wie den unkonventionellen Lebensstil der Mama. Obwohl er wegen seiner dunkleren Hautfarbe so gut wie nie ernsthaft benachteiligt oder bloßgestellt wird, ist sein Gespür für potenzielle Diskriminierung so ausgeprägt, dass er schon früh auf bekennende Zugehörigkeit setzt: zu dem Land, in dem er lebt, zu gesellschaftlichen Gruppen oder Milieus, die er mit feinem Instinkt als erstrebenswert deutet.

Der Autor tut hier etwas ziemlich Mutiges: Ohne Rücksicht auf Sympathieverluste beschreibt er sich selbst als Kind und Jugendlichen so, dass die halb selbstironische, halb provokante Kernfrage, um die sein Buch kreist, den Leser von Anfang an beschäftigt. Sie steht auf dem Umschlagrücken und lautet: "War ich überassimiliert, deutscher als jeder Deutsche? Ein Opportunist, der die Anpassung so weit trieb, bis die konservativen Väter meiner Freunde überzeugt waren, dass das deutsche Kulturerbe einzig in meinen Händen noch eine Chance auf ein Weiterleben hatte?" Wer so fragt, geht couragiert das Risiko ein, dass irgendeiner mit "Ja" antwortet.

Vieles an Mangolds Kindheitserinnerungen ist mühelos übertragbar auf andere Lebensläufe, aber es gibt einen Unterschied: Der Junge, der da in behüteten Verhältnissen heranwächst, zeigt bereits so deutliche Symptome von Überanpassung, dass er einem manchmal nicht ganz geheuer ist. Und man beginnt, Indizien zu sammeln, die im anekdotischen Kontext eine gewisse Komik entfalten.

So erlebt der Knabe sein einjähriges Gastspiel in einem antiautoritären Kindergarten als äußerst unangenehm. Faszinieren lässt er sich hingegen vom Beamtentum: Er legt sich eine große Stempelsammlung zu, und beim Anblick einer "Drucksache" durchrieselt ihn ein wohliger Schauer - nicht etwa, weil er sie mit der Druckerpresse in Verbindung brächte, sondern weil er sie mit "Amtsverkehr" assoziiert. Er wird später zeitweise Geschmack daran finden, sich als "Gesinnungspreuße" zu fühlen; seine Mutter wiederum nennt ihn einen "Distinktionsneurotiker".

Die entschiedene Abneigung des Jungen gegen alles Afrikanische ist frei von Groll gegen den abwesenden Erzeuger. Dass dieser, in Deutschland zum Facharzt für Kinderchirurgie ausgebildet, bald nach der Geburt des Sohnes in sein nigerianisches Heimatdorf zurückkehrte, um dort sein Wissen zum Wohl seiner Landsleute anzuwenden und eine neue Familie zu gründen, entsprach einer Verabredung: Man hatte sich im Guten getrennt.

Diese Mischung aus Bericht und Bildungsroman musste unbedingt aufgeschrieben werden

Der Junge vermisst den Erzeuger nicht, ist vielmehr froh, dass er nicht auftaucht, weil er ihn als Störfaktor für die perfekte Assimilation empfände. Wenn der erwachsene Erzähler, nunmehr in der Ich-Form, sich mit der schlesischen Herkunft der Mutter und dem Vertreibungsschicksal ihrer Vorfahren zu identifizieren beginnt, bis hin zum koketten Spiel mit dem Satz: "ich bin Schlesier", fügt das der Dialektik von Anpassung und Distinktion eine weitere, leicht kuriose Facette hinzu.

Ein USA-Aufenthalt und Freundschaften mit African Americans erweitern die Perspektive, bevor die Begegnung mit dem Vater das Leben des jungen Mannes gründlich durcheinanderbringt. Da ist er schon 22 Jahre alt, hat ein Elite-Gymnasium absolviert, eine marxistische Phase durchlaufen und sich von einem schrägen intellektuellen Guru inspirieren lassen; er hat Thomas Mann und Richard Wagner für sich entdeckt und mit dem Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie begonnen. Die Reise nach Nigeria, das Ankommen und Zurechtfinden bei der afrikanischen Verwandtschaft, die ihren eigenen Konservatismus pflegt, sind einschneidende Erfahrungen, deren Zwiespältigkeit sich in Mangolds Schilderung wunderbar vermittelt. Am Ende stehen Entscheidungen, Enthüllungen und Abschiede. Der Verlust der Eltern muss bewältigt werden, dafür festigen sich die neuen Geschwisterbande. Und schließlich mündet, wie es sich bei einer vorgezogenen Autobiografie gehört, alles ins Offene.

Der Leser aber begreift nach und nach, warum diese wie beiläufig erzählte, von Ambivalenzen und Widersprüchen durchsetzte Geschichte, diese Mischung aus Tatsachenbericht und Bildungsroman, unbedingt aufgeschrieben werden musste. Man darf Ijoma Mangold bescheinigen, dass er hier auf überzeugende Weise sich selbst "historisch" geworden ist, um eine Formulierung Goethes zu benutzen, und dass er bei aller Freimütigkeit klug zu trennen weiß zwischen dem, was er preisgibt, und dem, was er für sich behält. Das schützt seine Privatsphäre und macht den Leser weder zum Voyeur noch zum Komplizen, sondern zum Mitdenker. Schade nur, dass Verlage sich heute oft nicht mehr die Zeit nehmen, kleine Flüchtigkeiten wegzulektorieren: Auch ein Literaturkritiker und Redakteur sollte, wenn er als Schriftsteller debütiert, damit nicht allein gelassen werden.

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