Krimikolumne:Gottes Unterschrift

Lesezeit: 3 Min.

Wenn jetzt die Flut beginnt, hätte man besser ein paar Bambusstangen und ein Netz im Rucksack. (Foto: Jürgen Wackenhut/imago images)

Wie man eine Wattwanderung überlebt und andere gute Lehren aus aktuellen Krimis.

Von Fritz Göttler

Eine Stadt ist in Bewegung, verlagert sich, Kiruna, ganz im Norden von Schweden. Der Erzbergbau hat das Gelände unterminiert, die Stadt muss einige Kilometer umgesiedelt werden. Rebecka Martinsson ist Staatsanwältin in Kiruna, sie hat eine Top-Anwaltskarriere in Stockholm dafür aufgegeben. Sie leidet, ihr Vorgesetzter ist missgünstig und schikaniert sie. Ihr Ex-Freund Krister, Hundeführer bei der Kripo von Kiruna, hat eine andere, eine Instagram-Influencerin, cool, nervig und liebesbedürftig.

Es ist Mai, aber noch gibt es Tage mit dichtem Schneefall. Der Einfluss der Russenmafia ist immer wieder brutal. Auf einer kleinen Insel nahe der Stadt wird ein Toter gefunden, auch in seiner Kühltruhe steckt eine Leiche, ein Schuss in der Brust, liegt seit den Sechzigern da drin. Der Sohn dieses Toten hatte eine Boxerkarriere, die ihn bis nach Amerika brachte, er möchte wissen, wer den Vater umbrachte.

Die Sünden der Väter: Mit "Fädernas missgärningar" - so der Originaltitel - ist das halbe Dutzend Martinsson-Romane voll. Da entsteht ein weit ausholendes Gesellschaftsbild in der Tradition der großen Romane von Dickens, Stendhal, Tolstoi. Lebensüberdruss und -untüchtigkeit, verpasstes Glück und späte Reue, Gefühlsarmut und Begehren, Entsagung und Ergebenheit: Nicht jede Misere ist am Ende aufgelöst, nicht jedes Unrecht bestraft: "Der Zufall ist das Pseudonym Gottes, wenn er nicht unterschreiben will." Das könnte als Motto über der ganzen Martinsson-Saga stehen.

Åsa Larsson, Wer ohne Sünde ist. Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt. Bertelsmann 2022. 591 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Liewe Cupido wurde im baden-württembergischen Bad Bollingen geboren, wuchs auf der niederländischen Insel Texel auf, ist Beamter der Bundespolizei See Cuxhaven, wo die Kollegen ihn den "Holländer" nennen. In einem verzwickten Fall soll er vermitteln - ein Mann, tot gefunden von einem niederländischen Patrouillenboot, wurde nach Holland in die Autopsie gebracht, er lag auf einer Sandbank, von der nicht so recht klar ist, zu welchem Land sie gehört. Deshalb erhebt die deutsche Polizei Anspruch auf Aufklärung, verlangt die Überstellung der Leiche. Der Tote ist ein Wattwanderer, der beim Versuch, ein Watt bei Ebbe zu durchqueren, von der Flut überrascht worden ist.

Wattwandern ist Präzisionsarbeit und erfordert sorgfältige Vorbereitung, die Flut kommt schnell, und wenn man die Strecke dann nicht ganz geschafft hat, hilft nur noch das "Überfluten": Man steckt drei mitgeführte Bambusstangen zusammen wie ein Tipi und hängt ein Netz darüber, in das man sich legt. Und muss nun die Stunden überstehen bis zur Ebbe, in der stockfinsteren Einsamkeit, das gurgelnde Wasser unter sich, das Watt "wie ein riesiges schwarzes Loch, ein Tor zur Unterwelt ... nachts ist man da draußen schon sehr klein".

Ein schwarzes Loch sind auch die Vergangenheiten des Wattwanderteams, ihre Freundschaft wird erschüttert durch alte Lieben und Traumata. Und die Kriminaler auf beiden Seiten produzieren - der Prestigedruck unter Nachbarn! - selbst gehörige Traumata und Karambolagen.

Mathijs Deen: Der Holländer. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Mare-Verlag, Hamburg 2022. 263 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Ein kriminalistisches Schaulaufen, zwei Star-Ermittler treffen sich in diesem Roman. 1937, im mondänen Badeort Saint-Jean-de-Monts: Georges Simenon und Friedrich Glauser (von Simenon mit allem Respekt immer als Glosère tituliert), die Väter von Kommissar Maigret und Wachtmeister Studer. Sie fangen spontan an, gemeinsam einen Krimi zu entwickeln. Ein Schweizer Geschäftsmann, namens Müller/Miller ist im Ort unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen.

Ursula Hasler hat sich dieses Teamworking ausgedacht, liefert eine melancholische Reflexion über den Mechanismus und Realismus des Kriminalromans, mit seinem minimalistischem Gewebe von Details (von Studer "Sächeli" genannt). Simenon bringt statt seines Maigret eine Amateurdetektivin ins Spiel, Amélie Morel, ein Schatten von Miss Marple. Glauser lässt Studer von Bern an den Atlantik holen, wo der Wachtmeister ein ebensolcher Underdog ist wie sein Autor am mondänen Strand (der vom Großbürger Simenon diskret kollegial ausgehalten wird).

Ursula Hasler: Die schiere Wahrheit. Glauser und Simenon schreiben einen Kriminalroman. Limmat Verlag, Zürich 2021. 344 Seiten, 29 Euro. (903-hasler-wahrheit-10-cm.jpg) (Foto: N/A)

Sehr oft sind die sozial Deklassierten die Täter und müssen, das peinigt Studer sehr, zum Geständnis gezwungen werden. Auch Simenon ist auf seine Weise ein Underdog. Er lässt die höchst erfolgreichen Maigret-Romane sein und will nun Literatur schaffen. Die beiden treffen auf eine merkwürdige Gestalt - einen Einarmigen mit Maske, der sich kassandrahaft andient: "Eine Prophezeiung für einen Sou! So billig erfahren Sie nirgends die Wahrheit!"

Ganz so billig geht's natürlich im Krimi nicht. "Wahrheit! Man weiß ganz genau, dass die Wahrheit, die man findet, nicht die schiere Wahrheit ist. Aber man kennt sehr gut die Lüge!"

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: