Arundhati Roys Essayband "Azadi heißt Freiheit":Im tragischsten Land der Welt

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Instinkt für Zufälle: Arundhati Roy 2019 in New York. (Foto: Beowulf Sheehan/Imago Images/Zuma Wire)

Gegen Arundhati Roys Essays über Armut, Hunger und Polizeigewalt in Indien wirkt die deutsche Corona-Debatte wie ein Luxus-Geplänkel.

Von Sonja Zekri

Corona und Verschwörungsblödsinn sind, wie man weiß, Blutsgeschwister. Diese Tatsache bestätigt sich auch beim Blick auf eine sehr ferne Variante, die indische. Covid wurde von Muslimen erfunden, glauben viele Hindus, die Pandemie durch ein Superspreader-Event der islamischen Missionsbewegung Tablighi Jamaat verbreitet. Das Virus ist ein Instrument des biologischen Dschihad.

Weit hergeholt? Bizarr? Natürlich. Andere Vorbehalte, sprechen wir es aus: andere Vorurteile gegen Muslime, denen in Indien die Hindu-Rechte und damit auch die Regierung und viele Medien anhängen, sind in Europa deutlich anschlussfähiger. Rechte Hindus betrachteten den Muslim "als frauenhassenden, terroristischen Dschihadisten", schreibt die indische Schriftstellerin und Publizistin Arundhati Roy in ihrem neuen Essayband "Azadi heißt Freiheit". Sie stilisierten sich sogar zum "Retter" muslimischer Frauen. Das klingt wiederum doch sehr vertraut.

Der Unterschied "zwischen dem, was Indien hätte werden können, und dem, was es geworden ist", macht es für Roy zum "tragischsten" Land der Welt

Roys Buch enthält zehn Texte aus den Jahren 2018 bis 2021, Dankesreden, Zeitungsartikel, Vorträge, Vorlesungen. Manchmal taucht sie ein in die Innenpolitik dieses oder jenes Bundesstaates, aber im Grunde ist "Azadi heißt Freiheit" ein einziger großer Text, eine Abrechnung mit Indiens Premierminister Narendra Modi.

An dieser Stelle eine Bitte an die Publizistinnen und Publizisten der Welt. Bitte verzichten Sie möglichst auf Faschismus-Vergleiche. Die deutschen Leserinnen und Leser werden durchaus Ihr Entsetzen teilen, wenn Sie die Verfolgung von Minderheiten in Ihrem Land, in diesem Fall also: Indien aufdecken, wenn Sie über Massaker schreiben wie die Ermordung von 2000 Muslimen im Bundesstaat Gujarat im Jahr 2002, über Repressionen gegen Anwälte, Journalisten und Aktivisten, über Gesetze, die Menschen zu Bürgern zweiter Klasse machen wie Indiens neues Staatsbürgergesetz. Es ist nicht nötig und sogar kontraproduktiv, beispielsweise die Nürnberger Rassegesetze ins Spiel zu bringen. Jeder Faschismus-Vergleich löst in Deutschland starke, aber fast immer die falschen Reaktionen aus, denn am Ende geht es immer nur um Deutschland.

Dabei ist dies ein Buch über Indien, das, wie Roy schreibt, nicht nur ein Land ist, sondern ein ganzer Kontinent mit 780 Sprachen und mehr Religionen und Nationalitäten als in Europa. Auf diesem Kontinent ruhten einst große Hoffnungen. Bis heute zehrt Indien von seinem Ruf als größte Demokratie der Welt und vom Glanz verklärender Filme wie Richard Attenboroughs "Gandhi", den die indische Regierung übrigens mitfinanzierte, so Roy. Es ist ja schon aus geopolitischen Gründen nicht ratsam, sich mit einem Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern zu überwerfen. Aber der Unterschied "zwischen dem, was Indien hätte werden können, und dem, was es geworden ist", macht es für Roy zum "tragischsten" Land der Welt.

Arundhati Roy: Azadi heißt Freiheit. Aus dem Englischen von Jan Wilm. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 254 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Arundhati Roy, die Tochter einer syrischen Christin aus dem indischen Bundesstaat Kerala und eines hinduistischen Teeplantagen-Besitzers aus Bengalen, ist ein Geschöpf des kulturellen Reichtums ihrer Heimat und ihrer Widersprüche, als Schriftstellerin ist sie dies sogar in erhöhtem Maße. Sie beschreibt, wie sie als Kind Shakespeare zitieren, christliche Hymnen singen und tamilisches Kabarett imitieren konnte, dann von ihrer Mutter gezwungen wurde, Englisch zu sprechen, und erst danach Hindi lernte. Für Literaten in dieser Gegend könne Sprache "niemals eine Selbstverständlichkeit" sein: "Sie muss zubereitet werden. Wie ein langsam geschmortes Gericht."

So viel Zeit hat sie heute nicht mehr. Sie schreibt englisch, um von vielen gehört zu werden, sie richtet sich an das Publikum in Cambridge und New York, an die Leser des Guardian und der Financial Times. Seit ihrem sensationellen Debütroman "Der Gott der kleinen Dinge", der ihr 1997 den Durchbruch brachte, hat sie nur noch einen weiteren Roman geschrieben, "Das Ministerium des äußersten Glücks". Alles andere sind politische Texte, Nicht-Fiktion. Für Roy ergänzt sich beides, ausführlich zitiert sie in ihren Essays aus ihren Romanen. Manchmal wirkt das aber, als vertraue sie weder der Wirkung ihrer politischen Schriften noch jener ihrer literarischen vollständig.

Der Besitz von Roys Texten gilt bei der Festnahme von Aktivisten als Beweismittel

Nähme man die Wut der Behörden als Maßstab, müsste sie sich da keine Sorgen machen. Die Polizei klassifiziere ihre Texte inzwischen als gefährliches Schriftgut, schreibt sie, sie gelten bei der Festnahme von Aktivisten als Indiz für nationale Unzuverlässigkeit. Nur mit einem Halbsatz deutet sie an, dass ihr das irgendwann selbst zum Verhängnis werden könnte. Zumal sie nicht nur über das Fortleben des Kastensystems, des Brahmanismus, schreibt, das inzwischen von weißen amerikanischen Rassisten gelobt werde, sondern auch über Indiens Anathema - Kaschmir. "Das Land der lebenden Toten und der sprechenden Gräber" mit seiner mehrheitlich muslimischen Bevölkerung ist seit der Teilung Indiens und Pakistans 1947 ein Konfliktherd zwischen den beiden Staaten, eine offene Wunde, eine Gefahr für die ganze Welt. Als die Modi-Regierung vor zwei Jahren Kaschmirs Sonderstatus als halbautonomes Gebiet aufhob, standen Pakistan und Indien am Rande eines Krieges, wieder einmal. Beide Staaten haben Atomwaffen.

Arundhati Roy schreibt kraftvoll und ohne Furcht vor Wiederholungen. Der Ton höchster Dringlichkeit, das ununterbrochene Aufrütteln mag manchmal ermüden, dafür entschädigt ihr Instinkt für Zufälle. Im Januar 2020 besuchte Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro Delhi, kurz darauf US-Präsident Donald Trump. Dazwischen wurde der erste Corona-Fall in Indien bekannt. Modi nahm ein Yoga-Video auf, um die Menschen im Lockdown zu ertüchtigen, Indien exportierte noch Schutzkleidung und Beatmungsgeräte, als sich bereits Millionen Wanderarbeiter auf den Weg nach Hause gemacht hatten. Viele von ihnen waren infiziert.

Die Wanderarbeiter wussten Bescheid über Covid, schreibt Roy. Aber nicht alle betrachteten es als das größte Unglück, das ihnen je widerfahren war. Arbeitslosigkeit, Hunger, Polizeigewalt rangierten für sie gleichauf. Gegen diese lebenslange Not wirkt die schrille deutsche Corona-Debatte, in der Argumente ohne Diffamierung kaum noch vorkommen und die oft gar nicht mehr anders will, als hoch- oder durchzudrehen, plötzlich wie ein Luxus-Geplänkel, selbstverliebt und eitel.

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