Argentinisches Wanderkino:Universelles Straucheln

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Filme für Dörfer, Gefängnisse oder Schulen: Das Cine Móvile bringt Kino bis in die letzten Winkel Argentiniens - und zeigt manchen den ersten Film ihres Lebens. Auch durch Deutschland ist das Wanderkino gereist.

Sonja Peteranderl

Wer hierzulande von einem "Wanderkino" spricht, ist meistens zerknirscht. Entweder, er ist frisch "geknipst" worden, oder er hat gerade "geblecht": Der Begriff "Wanderkino" wird umgangssprachlich als ironische Umschreibung für eine Radarfalle benutzt.

Filme, Diskussionen und Filmproduktion: Motorisierte Vorführteams bringen argentinisches Kino bis in entlegene Ecken des Landes.  (Foto: Ute T. Schneider)

Dass ein Wanderkino aber auch leuchtende Augen verursachen kann und nicht nur "geblitzte", wenn es nämlich in seinem ursprünglichen Sinne daherkommt, das lernten nun die Insassen der Justizvollzugsanstalten in Hamburg, Berlin, Rottenburg und Fuhlsbüttel: Das argentinische Wanderkino "Cine Móvil" aus der Provinz Córdoba war für sechs Wochen zu Gast in Deutschland und besuchte neben Kulturinstituten, Schulen und kleinen, kinofreien Orten auch ebendiese Gefängnisse - und das nicht ohne Grund:

Nach seiner Haftentlassung stellt der Berufskriminelle Oso in dem argentinischen Film Un Oso Rojo (Der rote Bär) fest, dass seine Ehe kaputt und die Tochter ohne ihn aufgewachsen ist - und seine Kumpanen schon den nächsten Coup mit ihm planen. Anfangs voller guter Vorsätze, beginnt er bei der Rückkehr in den Alltag zu straucheln. Die Angst vieler Häftlinge, dass die Zeit nach dem Gefängnis schlimmer sein könnte als die Zeit darin, scheint universell zu sein - zumindest erkannten die deutschen Häftlinge bei der Filmvorführung viele Gemeinsamkeiten mit dem Protagonisten des Filmes von Adrián Caetano.

Parallelen zur deutschen Lebenswirklichkeit lassen sich in allen 14 Filmen entdecken, die "Cine Móvil" auf seiner Deutschlandtour gezeigt hat: Es geht um Migration und die Spätfolgen von Diktatur, Zukunftsperspektiven für Jugendliche und um die Wirtschaftskrise. Im September und Oktober hat das Cine Móvil-Team nun insgesamt 6000 Kilometer quer durch Deutschland zurückgelegt, finanziert von der Bundeszentrale für politische Bildung.

Auch das Kinosterben ist eine deutsch-argentische Gemeinsamkeit. "Unterwegs sind wir an einigen leerstehenden Kinos vorbeigekommen", sagt die deutsche Journalistin und Filmemacherin Ute Schneider, die in Córdoba lebt und die Reise des Wanderkinos mit organisiert hat. Die Zahl der Kinos in Deutschland ist der Filmförderungsanstalt zufolge 2009 zum fünften Mal in Folge gesunken. 170 Kinos schlossen allein im vergangenen Jahr, so dass die Anzahl der deutschen Kino-Städte unter 1000 sank.

Ein Auto, Leinwand, Projektor, Lautsprecher und DVDs - das "Cine Móvil" ist Kino in seiner simpelsten und auch ursprünglichsten Form. In Europa zogen Ende des 19. Jahrhunderts Hunderte von Wanderkinos durch die Lande und zeigten ihr Programm in damals noch kinofreien Städten und auf dem Land, in Deutschland bespielten 1904 fast 500 mobile Vorführer das cineastisch interessierte Publikum - entstanden oft aus einem Zirkusunternehmen. Erst als sich Kinos immer stärker als Institution etablierten und in den 20er Jahren zu regelrechten Palästen wurden, geriet die mobile Variante in Vergessenheit.

In Argentinien, dem diesjährigen Gastland auf der Frankfurter Buchmesse, sind seit dem Kinosterben der neunziger Jahre etwa 80 Prozent des großen Landes kinofrei, ein Großteil der Bevölkerung und des kulturellen Angebots sind auf die Hauptstadt Buenos Aires konzentriert. Das staatlich geförderte Wanderkino soll seit 1997 das eingeschränkte Kulturangebot in den 24 Provinzen ausgleichen. Nach dem Prinzip "cultura para todos", "Kultur für alle" ist das Wanderkino ein Gratis-Angebot.

"Argentinien sieht es als Bürgerrecht an, an Kultur teilzuhaben", sagt Schneider, die für ihren Dokumentarfilm Cine Móviles - la road movie argentina verschiedene Teams durch die Provinzen Córdoba, Jujuy, Buenos Aires und Patagonien begleitet hat. "Auf dem Land ist das Wanderkino teilweise das einzige, was ein bisschen Kultur in die Dörfer bringt."

In Argentinien herrschen starke Gegensätze zwischen Stadt und Land, die Armut ist in vielen Gebieten fernab von Buenos Aires groß. Auf ihrer Reise mit dem Kino hat Schneider teils heruntergekommene Orte kennengelernt, an die man nur auf staubigen Wegen gelangt, Dörfer, die weder ans Stromnetz angeschlossen sind noch eine mediale Infrastruktur haben. Schneider hat im weitgestreckten Patagonien Mapuche-Kinder getroffen, die zu zwölft in einer kleinen Schule unterrichtet wurden und teilweise nicht einmal Schuhe besitzen.

Kino in seiner einfachsten Form: Das Cine Móvil Córdoba reist mit Leinwand, Projektor und DVDs durch die ganze Provinz. (Foto: Ute T. Schneider)

Wenn das mobile Kino anrollt, sehen manche Kinder und auch Erwachsene den ersten Film in ihrem Leben - einige erschrecken, wenn sie die flüchtigen Bilder auf der Leinwand sehen. Für viele sei das Wanderkino hingegen ein Höhepunkt der Freizeitgestaltung, wenn es ein- bis zweimal anrollt. Das Publikum entscheidet dann, welche Filme es sehen möchte, oft wird auch gemeinsam gegessen. "In Deutschland gibt es ein relativ festes Zeitkorsett, in Argentinien ist das lockerer", sagt Gustavo Drincovich, der "Cine-Móvil"-Projektleiter der Provinz Córdoba.

Der frühere Theaterschauspieler und -regisseur will dabei mehr als Filme zeigen. Er führt auch Filmprojekte mit Jugendlichen durch und erklärt den Zuschauern, wie Filme konstruiert worden sind. "Wir wollen einen Raum eröffnen, um über die Realität nachzudenken", sagt Drinkovich. Das Wichtigste sei für ihn die Diskussion danach.

Die Verschwundenen

Ein Thema, das bis heute Archillesferse der argentinischen Gesellschaft ist, ist die Militärdiktatur von 1976 bis 1983, während der etwa 30.000 Menschen entführt, gefoltert und getötet wurden - einige der Verantwortlichen stehen derzeit in Buenos Aires und in Córdoba vor Gericht. Die Bereitschaft, über dieses dunkle Kapital der argentinischen Geschichte zu debattieren, ist Drinkovich zufolge sehr unterschiedlich - je nachdem, wie konservativ das Publikum sei.

Bei der Deutschlandreise hat das Wanderkino aus Córdoba auch den Film Hermanas (Schwestern) gezeigt. Der Film von Julia Solomonoff vermittelt, wie die Verbrechen und die Schicksale der verschwundenen Diktaturopfer sich bis in die Familien der Gegenwart fräsen. Während die ältere Schwester Elena versucht, die Vergangenheit in einer anonymen Vorstadt in den USA zu verdrängen, sucht die Jüngere, Natalia, nach dem Verräter ihres damaligen Freundes - der von Militärs ermordet wurde. Am Ende stellt sich heraus, dass ihre ältere Schwester das Versteck des Studenten verraten hat - um ihrer beider Vater zu retten.

Der Film soll Handlungsmechanismen offen legen, nicht urteilen oder Stellung beziehen - das bleibt dem Publikum überlassen. Auch auf der Wanderkino-Reise durch Deutschland wurde er unterschiedlich interpretiert: In Westdeutschland hätten die Zuschauer danach über den Nationalsozialismus diskutiert, sagt Ute Schneider. In Ostdeutschland sei nach der Vorführung eine Diskussion über die DDR entbrannt.

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