Wohnen im Lockdown:Was eine Wohnung alles leisten könnte

PPAQ Architekten Wien.

In der elastischen Wohnung, entworfen Anna Popelka und Georg Poduschka, sind sieben kleine Zimmer um einen zentralen großen Raum arrangiert. Außer Küche, Bad und Abstellraum sind alle Zimmer flexibel in der Nutzung.

(Foto: PPAG architects Wien)

Die Krise zeigt deutlicher denn je, dass die meisten Wohnungen den Bedürfnissen ihrer Bewohner nicht mehr gerecht werden. Das ließe sich ändern.

Von Laura Weissmüller

Unsere Wohnungen müssen für Familien gerade Erstaunliches leisten. Sie sollen perfekte Bedingungen bieten für den Unterricht der Schulkinder und die Betreuung der Kleinen. Sie sollen Rückzugsmöglichkeiten erlauben, weil sich auch das innigste Paar irgendwann auf die Nerven geht. Ganz zu schweigen von der Arbeit, die von vielen im improvisierten Home-Office erledigt wird. Schon nach den ersten zähen Wochen der Ausgangsbeschränkung ist klar: Wer nicht das Glück hat, ein eigenes Haus zu besitzen oder zumindest eine großzügige Altbauwohnung, dessen Zuhause kann diese Ansprüche kaum erfüllen.

Wie mit dem Brennglas macht die Pandemie damit klar, wer hierzulande von der Wohnungskrise am meisten betroffen ist: Es sind die Menschen in den teuren Städten, für die auch vor Corona das Extrazimmer ein unerfüllbarer Traum war. Denn das, was unsere Wohnungen jetzt bieten sollen, hätten sie ja schon vor Covid-19 haben müssen.

"Es stimmt einfach hinten und vorne nicht mehr, worauf unsere Wohnungen aufgebaut sind", sagt der Wiener Architekt Georg Poduschka. Das Konzept der Wohnung, wie wir sie heute kennen, stamme aus dem Funktionalismus, und der sei vor hundert Jahren entstanden. Einer Zeit mit festen Vorstellungen, wie eine Gesellschaft zu leben, zu arbeiten und zu lieben hat. Geplant wurde fast ausschließlich für das traditionelle Familienmodell Vater-Mutter-zwei-Kinder. "Funktionalismus bedeutet ordnen, vereinfachen und auseinanderdefinieren", sagt Anna Popelka, die mit Poduschka das Architekturbüro PPAG führt. "Unser Leben, wie wir es kennen, ist aber eine unglaublich komplexe Angelegenheit, das bilden die Wohnungen nicht ab."

Eine Wohnung muss die Komplexität der Gegenwart abbilden

Popelka und Poduschka sind Experten für ein anderes Wohnen. Das Paar beschäftig sich seit Jahrzehnten damit und deklinierte früh im "Selbstversuchsexperiment" durch, was alles möglich ist, wenn man ein Wiener Gassenlokal in eine Wohnung umbaut, in der man arbeitet und in der ein Kind aufwächst. Deswegen also die Frage an die beiden: Wie könnte sie aussehen, die Dreizimmerwohnung, in der drei Menschen - zwei groß, einer klein - die Corona-Zeit halbwegs entspannt überstehen? In der man also arbeiten, das Kind betreuen, gemeinsam Spaß haben und jeder für sich sein kann? "Das ist total von den drei Personen abhängig", sagt Poduschka. Die einen bevorzugen ein 70-Quadratmeter-Loft, wo sich alle Kopfhörer aufsetzen, um zu arbeiten. Die anderen drei Kämmerchen, in die sich jeder zurückziehen kann, und einen großzügigen Gemeinschaftsraum. Wieder andere drei große Zimmer, "und man geht einander besuchen".

Die Tausendsassa-Wohnung, die alle Bedürfnisse für jeden erfüllt, gibt es also nicht. Beziehungsweise ist ihr trauriges Abbild das, was sich hierzulande seit der Moderne genormt in die Höhe türmt - und die Bewohner jetzt gefangen hält. Weshalb auch der eine "gute Grundriss für alle" nicht existiere: "Wir sollten eine Vielfalt anbieten", sagt Poduschka. "Das Haus findet dann seine Bewohner."

Wie eine Wohnung für ein solches Haus aussehen kann, das haben PPAG mit ihrer "elastischen Wohnung" vorgeführt, die sie für ein Berliner Wohnungsbauunternehmen entworfen haben. Sieben quadratische kleinere Zimmer arrangieren sich dort um einen zentralen Raum. Fix vorgeschrieben in der Nutzung sind nur Bad, Küche und ein Abstellraum, alle anderen Zimmer sind flexibel. Das funktioniert, weil eine Wand vieles sein kann: ein Vorhang zum Beispiel, eine Falttür oder ein Glaselement. "Es sind keine Wunder, die wir uns da ausdenken", sagt Popelka. Und doch passt sich die Wohnung so flexibel an die Bedürfnisse der Bewohner an wie ein Kleidungsstück.

Das hat auch etwas mit der Belichtung zu tun. "Da geht es um viel Tüftelei und letztlich um Zentimeter", sagt die Architektin. Computerprogramme helfen, damit auch bei einem großen Gebäude durch jedes Fenster genug Licht einfällt. Für Popelka ist deswegen klar: "Es gibt heute keine Entschuldigung mehr, die Komplexität der Gegenwart nicht abzubilden."

Die elastische Wohnung ist trotzdem Papier geblieben. Verhindert mit dem Argument, dass in der Wohnungsnot keine Experimente gewagt werden dürfen.

Entwurf min_mx Haus BARarchitekten, Berlin

Bei dem Entwurf des "min_max_Haus" von BARarchitekten lassen sich in der maximalen Variante eine kleine Wohnung zu- und abschalten, in der minimalen wie hier lässt sich ein größerer Raum mit Bad und WC hinzufügen.

(Foto: BARarchitekten, Berlin)

So geht es vielen Entwürfen, die mehr wollen, als das Immergleiche zu kopieren. "Das hängt mit dem politischen Auftrag zusammen", sagt Jürgen Patzak-Poor von BARarchitekten. Der Berliner Architekt hat mit seinen Bürokollegen schon oft an Wettbewerben für öffentlichen Wohnungsbau teilgenommen. Letztlich blieb das meiste Broschüre. Die Behörden hätten den Auftrag, möglichst schnell möglichst viele Wohnungen zu bauen; die Qualität dieser Wohnungen interessiere kaum. "Die meisten denken überhaupt nicht an so etwas wie Mischung und haben eine absolut negative Vorausahnung, was alles störend sein könnte." Vielfalt in den Wohnungstypen und Grundrissen zum Beispiel oder Gemeinschaftsräume.

Die Checkliste einer Berliner Wohnungsbaugesellschaft, die der Architekt weiterleitet, beweist die engstirnige Haltung: Alles, was gemeinschaftliche und flexible Nutzung erlaubt, wird rausgestrichen, alles, was vermeintlich wirtschaftlich ist, bleibt drin. "Bauen ist aber ein gesellschaftlich kulturelles Projekt, kein rein ökonomisches," sagt Patzak-Poor. In den Grundrissen fange man an, "die Gesellschaft zu bauen".

BARarchitekten versuchen deswegen, die Konzepte der Moderne aufzubrechen. Mit unterschiedlichen Wohnungstypen, die sie tetrisartig übereinanderstapeln wie in ihrem Haus in Prenzlauer Berg. Mit Grundrissen, die jeweils einen kleinen Raum in der Nähe des Eingangs haben, der abgesetzt vom sonstigen Wohnumfeld und zusätzlich getrennt mit einer Schiebetür Freiraum schafft, etwa für einen Gast, das pubertierende Kind oder das Home-Office wie bei ihrem vielgelobten, aber ebenfalls papiergebliebenen Entwurf für ein Mehrfamilienhaus in Bremen. Oder durch das Zuschalten von kleineren Wohnungen beziehungsweise einem Raum mit Bad wie bei ihrem unrealisierten "min_max Haus" in Leipzig.

Wohnen im Lockdown: Das Haus Neumann entwarf der Architekt Peter Grundmann in einer Lücke zwischen zwei Plattenbauten in Neubrandenburg für eine Bauherrin mit ihrem Kind.

Das Haus Neumann entwarf der Architekt Peter Grundmann in einer Lücke zwischen zwei Plattenbauten in Neubrandenburg für eine Bauherrin mit ihrem Kind.

(Foto: Peter Grundmann Architekten)

Die Flexibilität fängt mit einer Schiebetür an und hört beim Durchbruch einer Wand auf. Dies muss von Anfang an in einen Entwurf eingeplant sein, wird aber nur umgesetzt, wenn sich das Leben der Bewohner wirklich ändert, wenn also ein Kind kommt, ein pflegebedürftiger Angehöriger Hilfe braucht oder der Sprung in die Selbständigkeit gewagt wird.

"Ein Haus sollte nicht nur ein Szenario bieten, sondern viele", sagt Patzak-Poor. Das bedeute, "aufwendiger zu denken" - gestapelte Wohnungen mit identischen Grundrissen lassen sich schneller planen als solche, die bis ins Detail ausdifferenziert sind. Und es bedeute, zumindest auf den ersten Blick, auch etwas teurer zu bauen, weil es mehr Infrastruktur brauche, eine zusätzliche Tür zum Beispiel. Aber gerade dadurch dürfte es solchen Häusern besser gelingen, nicht nur Krisen zu trotzen, sondern auch der Abrissbirne. "Resilient" nennt der Architekt diese Häuser, weil sie, "nicht nur eine solide Konstruktion haben, sondern auch anpassungsfähig sind".

Doch nicht nur Baubehörden fehlt die Vorstellungskraft, was Häuser heute alles können müssten, sondern auch Architekten. "Viele erfüllen vorschnell die Wünsche ihrer Auftraggeber", sagt Peter Grundmann. "Architekten sind eben nicht unbedingt Forscher." Der Berliner schon. All seine Häuser nennt er "Case Study" und erinnert damit an die Case Study Houses, mit denen die besten Architekten der USA nach dem Krieg herausfinden wollten, wie zeitgemäßes und bezahlbares Wohnen aussehen könnte. Bei Grundmann ist das Wohnen außerdem auch immer verwegen. Etwa in seinem "Anarchistenhaus", wo er sämtliche Nutzungen in Minikuben in die Fassade packte und einen 30 Quadratmeter großen Raum nahezu frei ließ. Das Ganze wirkt extrem großzügig, obwohl das Gebäude nur 41 Quadratmeter groß ist.

Der Markt neigt dazu, immer wieder dasselbe Muster zu wiederholen

Ein Haus dürfe man nicht bis ins Letzte planen, sagt Grundmann. Lieber solle man die Räume universell halten, damit sie ihre Funktion ändern könnten, und Räume, die Platz fressen, wie Flure und Erschließungsflächen, gleich weglassen. Wie beim Haus Neumann, wo Grundmann eine sieben Meter breite Baulücke zwischen zwei Plattenbauten in Neubrandenburg nutzte, um dort ein passgenaues Stück Architektur hineinzusetzen, das einen grandiosen Dialog mit der Stadt führt und trotzdem die nötige Privatsphäre für die Bauherrin und ihren Sohn bietet. Und nicht zuletzt die Flexibilität besitzt, damit das Low-Budget-Haus auch noch funktioniert, wenn das Kind ausgezogen ist.

Wohnen im Lockdown: Eine Wohnung wie eine Wendejacke: Im Arch+ Space in Berlin, entworfen von Arno Löbbecke und Anh-Linh Ngo, lassen sich die Bereiche Wohnen und Arbeiten beliebig und nur mit ein paar Handgriffen vergrößern und verkleinern.

Eine Wohnung wie eine Wendejacke: Im Arch+ Space in Berlin, entworfen von Arno Löbbecke und Anh-Linh Ngo, lassen sich die Bereiche Wohnen und Arbeiten beliebig und nur mit ein paar Handgriffen vergrößern und verkleinern.

(Foto: Ana Santl)

Wie viel dadurch gewonnen wird, wenn eine Wohnung ihren Charakter auch im Laufe eines Tages ändern kann, zeigt der ARCH+ Space in Berlin. Tagsüber entsteht in der dank Oberlicht und großen Fenstern lichtdurchfluteten Wohnung die Architekturzeitschrift ARCH+, abends finden - zumindest vor Corona - Salons und Veranstaltungen mit bis zu 80 Leuten statt, danach wird der Ort zur privaten Wohnung für ein Paar. Das funktioniert, weil jeder Raum unglaublich flexibel ist, Falt-Klapp-Türen besitzt und von mindestens zwei Seiten begehbar ist. Die Bereiche Wohnen und Arbeiten können beliebig und nur mit ein paar Handgriffen vergrößert oder verkleinert werden, etwa dank Klappbett und minimierbarem Bad. Eine Wohnung wie eine Wendejacke.

"Wir haben wirklich Glück, dass wir in diesen Zeiten ideale Arbeitsbedingungen haben und mit der Situation zumindest räumlich sehr gut klarkommen. Die Kombination von Wohnen und Arbeiten hat sich absolut bewährt", sagt ARCH+-Chefredakteur und Herausgeber Anh-Linh Ngo, der zusammen mit Arno Löbbecke die Wohnung entworfen hat und selbst darin lebt.

Wenn es also geht, dass Wohnungen flexibel sein können, individuell auf die Bedürfnisse der Bewohner zugeschnitten und sogar bezahlbar, warum hängen wir dann grundrissmäßig immer noch in der Vorkriegszeit fest? "Wir vergessen, dass es die Gesellschaft in der Hand hat", sagt Anna Popelka, die Wiener Architektin. Wohnen müsse endlich dem Markt entzogen werden. Denn der kenne nur das Kopieren des Immergleichen, damit der schnelle Profit möglichst groß ausfällt. Außerdem brauche es den politischen Auftrag, Innovationen zuzulassen. Gleichzeitig hätten die meisten Menschen gar keine Vorstellung, "was eine Wohnung alles leisten kann", sagt Anna Popelka. "Wenn die Pandemie dazu führt, dass die Leute übers Wohnen nachdenken und die Defizite merken, wäre schon viel gewonnen." Jürgen Patzak-Poor sieht das ähnlich: "Mit der Erfahrung der Krise haben wir die Chance, neu über den Wohnungsbau nachzudenken."

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