Architektur:Von Gardinen und anderen Feinden

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Lebenswille oder Formwille? Nach Jahrzehnten der Entfremdung kommen sich Architekten und Hausbewohner wieder näher.

Gerhard Matzig

Die Geschichte des modernen Wohnens ist die Geschichte einer alten Feindschaft - und die eines scheinbar unlösbaren Konfliktes. Auf der einen Seite des Grabens, der sich durch die gesamte Moderne und Nachmoderne der Architekturrezeption zieht, stehen Menschen, die wohnen wollen (und wohnen müssen).

Auf der einen Seite stehen Menschen, die wohnen wollen, auf der anderen: Jean Nouvel. Der Architekt hat sich vertraglich zusichern lassen, dass die von ihm entworfenen Wohnungen von den jeweiligen Besitzern nicht verunstaltet werden. Das Bild zeigt sein "Nemausus" Wohnprojekt in Nimes.    (Foto: rtr)

Auf der anderen Seite aber steht: Jean Nouvel. Nur zum Beispiel. Der französische Architekt hat sich nämlich vor einigen Jahren vertraglich zusichern lassen, dass die von ihm entworfenen Wohnungen von den jeweiligen Besitzern nicht verunstaltet werden dürfen. Als Verunstaltung gilt zum Beispiel das Anbringen von Gardinen und Vorhängen. Oder das Aufhängen von Bildern.

Auch in London gibt es Appartementanlagen mit sehr speziellen Hausordnungen. Dort soll die Architektur gleichfalls nicht verunglimpft werden, weshalb zum Beispiel Blumentöpfe auf den Balkonen strengstens untersagt sind. Bekannt ist auch der Fall einer New Yorker Wohnung. Dort wollte der Architekt vermeiden, dass die offene Küche ruiniert wird: etwa durch Benutzung, aber auch durch die Auswahl falscher Weine respektive falscher Etiketten im - mit einiger Délicatesse zum Haus dazu entworfenen - Weinflaschenregal. Der Architekt wählte die Weine daher unter besonderer Berücksichtigung ihrer ästhetischen Qualitäten selbst aus. Nicht der Winzer, sondern der Grafiker gab den Ausschlag.

Gestaltunskunst versus Lebenspraxis

Das Weinflaschenregal als architektonische Herausforderung: Das ist wohl eher ein Thema in jenem Bereich, der von den Immobilienpoeten gerne als "Fünf-Sterne-Wohnen" oder "Top-Segment" umschrieben wird. Aber es gibt für den Furor der Entwerfer auch etliche Beispiele im Sozialen Wohnungsbau. Manche Architekten tun sich offenbar sehr schwer mit jener Grenze, an der ihre Gestaltkunst aufhört - und die Lebenspraxis anderer Menschen beginnt.

Das Wohnen ist immer umstritten. Kein Wunder, denn es ist zugleich Ausdruck der Persönlichkeit, Ort also individueller Inszenierung, aber eben darüber hinaus auch der Raum existenzieller Notwendigkeiten und gesellschaftskultureller Übereinkünfte. Und dann kommt noch das mitunter exzessiv gedeutete Urheberrecht der Architekten hinzu, das in vielen Fällen die funktionale Architektur als rein formale Baukunst missdeutet.

Fremde Sphären

Daher wird nicht nur gegen den Umbau einer Villa - also auch gegen die Bewohner der Villa - prozessiert, sondern es werden auch Kämpfe um die Platzierung der Briefkästen im Geschosswohnungsbau ausgefochten, als gehe es um die Errichtung eines Atomkraftwerkes. Die Wohnenden haben es nicht leicht mit den Wohnraumschaffenden - und umgekehrt. Es sind, so scheint es, einander fremde Sphären.

Von Adolf Loos, dem großen Wiener Architekten, ist eine bald einhundert Jahre alte Satire auf den unbedingten Gestaltwillen der Architekten bekannt. In der Geschichte "Vom armen reichen Mann" wird der Bewohner einer fulminanten Raumschöpfung irre, weil der Architekt ihm nicht nur einen Lebensraum, sondern auch eine Lebensgeschichte und einen Lebensplan entwirft - bis hin zu den Pantoffeln, die nur in einem ganz bestimmten Zimmer getragen werden dürfen, bis hin auch zum Feuerzeug, das nur in einer ganz bestimmten Schublade aufbewahrt werden darf.

Heute, ein Jahrhundert später, hat sich die Satire längst in totalitäre Wirklichkeit verwandelt: Der amerikanische Architekt Richard Meier warf zum Beispiel seiner eigenen Mutter den Aschenbecher an den Kopf - weil der Aschenbecher nicht zum von Meier entworfenen Ambiente passte. Und Norman Foster wollte einmal den Deutschen Bundestag verklagen - weil er Thierses Polstersofa und den dazugehörigen Gummibaum nicht im Foster-Umbau des Reichstages dulden mochte.

So viel zur Satire, so viel auch zum Wesen sogenannter Star-Architekten. Doch finden sich solche Beispiele hundertfach in der Baugeschichte - und dort auch in den aktuellen Niederungen der Alltagsarchitektur. Der Gummibaum kann ganze Gerichte beschäftigen, man möchte es kaum glauben.

Die Sympathien liegen deshalb in der öffentlichen Wahrnehmung eindeutig auf Seiten der Opfer, also der Bauherren, Mieter oder ganz allgemein Wohnenden. Die Architekten sind in diesem Bild die Täter. Am besten kommt das noch immer in jenem legendären McDonald's-Spot zum Ausdruck, in dem ein schnöselhafter Architekt (naturgemäß schwarz gewandet) den verschüchterten Bauherren einen Alptraum aus Orthogonalität, Fensterlosigkeit und weißen Kacheln an Wänden, Decke und Boden präsentiert. Auf die bange Frage, ob das "nicht ein wenig zu kühl" geraten sei, antwortet der Architekt sardonisch grinsend: "Wenn Sie etwas Warmes wollen, dann gehen Sie doch zu McDonald's."

Die Herrschaft des Baumarktes

In diesem Spot wird zwar kein Klischee ausgelassen, aber die Botschaft ist durchaus mit Zahlen zu belegen: Im privaten Wohnungsbau, so eine Schätzung der Architektenkammern, werden 95 Prozent der Projekte in einem geradezu architekturfreien Raum realisiert. Ohne Architekten also, denen oft nur zugetraut wird, die Kosten, nicht aber das Wohlgefühl der Wohnenden zu steigern.

Wie gründlich sich das allgemeine, massenhafte Wohnen und die elitär begriffene Baukultur der Architekten auseinandergelebt haben, ist in jedem Vorort zu besichtigen. Man kann nicht sagen, dass sich eine Welt ohne Architekten durch Schönheit oder Klugheit auszeichnet. Die Herrschaft des Baumarktes und der sogenannten Individualität haben zusammen mit dem - allerdings: selbstverschuldeten - Argwohn gegen die Architekten ein Reich der Finsternis und Erbärmlichkeit entstehen lassen. Da können die Dächer noch so walmhaft und die Fenster noch so fenstersprossig tun: Man wünscht sich dringend die Architekten zurück in die architektenfreien Zonen der Wohnwelten.

Die "Renaissance der Stadt"

Es ist also eher eine Überraschung (und vorerst auch kaum mehr als eine recht zarte Ahnung), dass sich das Wohnen als Lebenswille und die Architektur als Formwille nun offenbar wieder etwas näher kommen. Abseits natürlich der privilegierten "Architektenhäuser", die ja ohnehin so bedenklich klingen wie "Bäckersemmeln" oder "Frisörfrisuren".

Immer öfter sind Wohnbaustellen zu besichtigen, die gerade den Gestaltanspruch betonen; immer öfter kann man sich mit Bauträgern unterhalten, die vom Geschäft mit der Architektur ausgezeichnet leben; und immer öfter tauchen auch Untersuchungen auf, die belegen, dass der alte Argwohn gegen eine als dominant und lebensfremd empfundene Disziplin zusehends der Neugier und Aufgeschlossenheit weicht.

Zuletzt hat etwa der Wohnbau-Experte und Architekt Peter Ebner eine Studie vorgelegt, die die Rezeption zeitgenössischer Wohnarchitektur als nicht so eindeutig wie bislang gedacht erscheinen lässt. Es wird sogar eine gewisse Sehnsucht nach plakativ modernen Wohnformen behauptet - und zwar inmitten des auftrumpfenden "New Urbanism" und seiner Camillo-Sitte-Reanimierungen, die eher auf das 19. als auf das 21. Jahrhundert zielen.

Der Trend hat zu tun mit den beiden aktuellen Herausforderungen von Architektur und Städtebau, die allein auf dem Terrain des Formalen nicht mehr zu bewältigen sind. Gemeint ist die Verdichtung des Wohnraums innerhalb der "Renaissance der Stadt", also der Trendumkehr zu den Suburbanisierungsschüben der Nachkriegsmoderne. Gemeint ist aber auch die ökologische Aufrüstung, die sich ja vor allem im Reich des Wohnens ereignet. In beiden Fällen aber ist wieder der Fachmann gefragt: Architektinnen und Architekten.

Das ist die große Chance für die Architektur - wenn sie mehr sein möchte als Design und modische Zutat. Es wird Zeit, den Krieg gegen die Gardinen zu beenden. Dann lässt sich wieder Substanzielleres gestalten.

© SZ vom 24.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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