Architektur:Deutschland hat das Bauen verlernt

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Feuchte Wände, maroder Bau: das Bundeskanzleramt im Berliner Regierungsviertel. (Foto: dpa)

Der wichtigste Neubau Deutschlands, das Bundeskanzleramt im Berliner Regierungsviertel, ist schon nach fünfzehn Jahren marode. Wie kann das sein?

Von Gerhard Matzig

Von Christian Morgenstern gibt es ein Gedicht mit dem Titel "Der Lattenzaun". Darin ruiniert ein Architekt einen Lattenzaun, um aus dessen "Zwischenraum" ein großes Haus zu entwerfen. Mit der Folge: "Der Architekt jedoch entfloh / nach Afri- od- Ameriko." Nicht nur um des Reimes willen.

Das Thema "Pfusch am Bau" wurde in der Literatur schon seit jeher dankbar für allerlei pointierte Abrechnungen in Anspruch genommen. Für Bertolt Brecht ist "die Hölle" so etwas wie moderner Städtebau, während moderne Häuser für Tom Wolfe "Insektizid-Siedereien" sind. Beide sind zusammen mit unzähligen Kollegen aus der Satzbau-Branche der Ansicht, dass Architekten als Mitglieder der Hochbau-Profession ihren Beruf verfehlt haben. Leider, muss man sagen, erhält solche Kritik beinahe täglich neue Nahrung. Nicht in der Fiktion, sondern in der Realität.

15 Jahre? Ist das die Halbwertszeit moderner Architektur?

Soeben berichtet der Spiegel über den "Sanierungsfall Kanzleramt". Decken seien undicht, Wände seien feucht, die Stromleitungen reparaturbedürftig, die Waschtischarmaturen veraltet, die Belüftungsanlage defekt, die Fotovoltaikanlage kaputt - und von den fehlerhaften Dachkanten "wuchert Moos über die Fassade". Dem Haushaltsausschuss des Bundestages wurde ein Mittelbedarf von dreieinhalb Millionen Euro gemeldet. Allein für Sanierungsarbeiten im Jahr 2017.

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"Modriger Geruch": So lautet der Titel des Berichts, von dem man überrascht sein könnte, hörte man nicht schon seit Jahren, dass der Betonbau im Berliner Regierungsviertel Mängel aufweist. Auf Nachfrage will das Bundeskanzleramt den Bericht im Spiegel zwar nicht im Wortlaut bestätigen, es sei ja auch alles "ein bisschen komplizierter" - aber ein Dementi ist definitiv etwas anderes. Ein Dementi kommt dafür vom Architekten, der sich jedenfalls auf Seiten des Entwurfs, wie er sagt, "keinerlei Vorwürfe machen muss".

Man kann die öffentliche Spottlust, die nicht immer zu unterscheiden ist von der Häme, bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Wie kann es sein, dass das von den Berliner Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank entworfene Bundeskanzleramt, ein medial dauerpräsentes, höchst telegenes Objekt und wichtigste Behörden-Immobilie Deutschlands, bezogen im Jahr 2001 - dass dieser bedeutende Staatsbau schon wieder als baufällig gilt? Nach nur 15 Jahren? Ist das die Halbwertszeit moderner Architektur? Oder sind doch die Krähen schuld? Diese sollen nämlich schwarmweise Steine auf die Solarmodule auf dem Dach fallen lassen - was möglicherweise eine Form von gefiederter Architekturkritik oder ein Debattenbeitrag zur Energiewende sein könnte. Jedenfalls ist vorerst unklar, was in der Verantwortung welcher Planer und welcher Bauausführenden liegt - und was nicht.

Die generelle Frage nach der nicht nur ästhetischen, sondern konstruktiv bedingten Nachhaltigkeit zeitgenössischer Bauten ist schon deshalb berechtigt, weil das Bundeskanzleramt kein singuläres Beispiel für das Bauen mit beschränktem Mindesthaltbarkeitsdatum ist. Offenbar muss die mächtigste Frau der Welt, Angela Merkel, hinnehmen, was Tine Wittler ("Einsatz in 4 Wänden") oder die Regie der RTL-2-Dokusoap "Dem Pfusch auf der Spur" in ihren beliebten Sendungen nicht dulden.

Früher wurden Häuser auf rund 100 Jahre abgeschrieben. Dies entsprach ihrer durchschnittlichen Lebensdauer. Heute hingegen hat man es zunehmend mit Baulichkeiten zu tun, die kaum länger halten als ein etwas anspruchsvollerer Toaster.

In fast jeder Stadt ist ein Bürogebäude, ein Schulhaus, Geschäft oder auch Museum bekannt, das nach kürzester Zeit so müde und ramponiert aussieht, als sehnte es sich nach seinem eigenen Abriss. In München gibt es zum Beispiel einen kaum dem Teenageralter entwachsenen Kirchengemeinde-Komplex (in der Messestadt Riem), dessen einst weiß erstrahlende Fassade nun so dunkle Striemen aufweist, als befände man sich direkt neben einer Ölraffinerie, wenn nicht im Fegefeuer. Ganz in der Nähe kündet ein Schulneubau aus Holz - von der Architekturkritik vor Jahren noch hymnisch gefeiert - von der offensichtlichen Unmöglichkeit, konstruktive Holzanschlüsse wetterfest auszuführen.

Während die Automobilindustrie, die am Band und millionenfach produziert, immer langlebigere Güter herstellt, geht die Baubranche, die ja eigentlich auf nachhaltige Unikate zielt, den umgekehrten Weg: Ihre Hervorbringungen weisen immer kürzere Lebenszeiten auf. Vitruv, der lange Zeit maßgebliche römische Architekt, wäre entsetzt. Er forderte in der Antike von der Baukunst dreierlei: Firmitas, Utilitas, Venustas - Standfestigkeit, Funktionalität und Schönheit.

Der Beruf des Bauschadensgutachters ist ein Beruf mit viel Perspektive

Und genau das erwarten bis heute auch die Bauherren. Undichte Decken schon nach kurzer Zeit: Das entspricht kaum den Prinzipien von Standfestigkeit und Funktionalität. Schön erscheint es einem auch nicht. Es ist einfach nur Pfusch, wobei dieser in der Planung, aber auch in der Ausführung liegen kann. Der Beruf des Bauschadensgutachters ist ein Beruf mit viel Perspektive.

Noch vor dem Wochenende wurde bekannt, dass das Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21" voraussichtlich abermals deutlich verspätet vollendet wird. Währenddessen hat man den Berliner Großflughafen schon fast vergessen und hört von der in einigen Tagen anstehenden Übergabe der Elbphilharmonie, die nun zwar fertig ist - allerdings zum zehnfachen Preis gegenüber früheren Kostenangaben. Man hat schon längst das Gefühl: Deutschland hat das Bauen verlernt.

Es gibt für jedes Beispiel Dutzende Begründungen für das jeweilige Scheitern. Man hat es immer mit Einzelfällen zu tun. Aus Hunderten Gutachten weiß man allerdings mittlerweile, dass drei Fehler immer im Spiel sind. Erstens werden die (Vor-)Planungs- und Bauzeiten aus rein ökonomischem Kalkül viel zu niedrig angesetzt. Zweitens werden die Kosten frisiert, damit man der Öffentlichkeit oder dem Aufsichtsrat das Vorhaben "besser verkaufen" kann. Und drittens werden immer die billigsten Anbieter von Bauleistungen und Materialien beauftragt.

Allerdings weiß man doch, dass sich die billigsten Lösungen nicht selten als die am Ende teuersten Probleme erweisen. Die schwäbische Hausfrau weiß das - und Angela Merkel weiß das in ihrem maroden Kanzleramt jetzt auch.

© SZ vom 11.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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