Archäologie:Von wegen "gute alte Zeit"

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Der kleine, aus Knochen geschnitzte Kopf war Teil eines römischen Totenbetts aus Haltern am See. (Foto: Stefan Brentführer; LWL-Archäologie für Westfalen)
  • Die Ausstellung "Bewegte Zeiten" im Berliner Gropiusbau zeigt, was Archäologen in den letzten 20 Jahren in Deutschland ausgegraben haben.
  • Zu sehen sind etwa die "Venus" vom Hohle Fels oder die wohl älteste Flöte der Welt.
  • Die Schau lässt spüren, wie vital und aufregend, doch auch wie gefährlich es durch die Jahrtausende auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands zuging.

Von Harald Eggebrecht

Ob Jäger und Sammler oder neolithische Bauern, ob römische Legionen oder Reitervölker aus dem Osten, ob Kaufleute in Köln am Rhein in antiker Zeit oder aus Lübeck zur Zeit der Hanseblüte, von unseren Tagen nicht zu reden - die Menschen waren ständig unterwegs, jagten, handelten, tauschten, wanderten aus oder ein. Es war ein unentwegtes Kommen und Gehen von "Ideen, Sachen und Menschen" über die Jahrtausende hinweg bis heute. Dieses Treiben hat viele Spuren hinterlassen. Davon erzählt die ausgreifende Ausstellung im Berliner Gropiusbau in vier Kapiteln: Mobilität, Austausch, Konflikt, Innovation.

Auch wenn Archäologen wiederholt betonen, dass die materiellen Reste, soweit sie noch in der Erde liegen, dort am besten aufgehoben seien, so aufregend ist es doch, die erstaunlichen Ergebnisse von Grabungskampagnen besichtigen zu können, weil sich direkter Augenschein kräftiger einprägt als Nurgeschichtsschreibung.

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Das griechische Handelsschiff ist etwa 2400 Jahre alt. Warum das Fundstück so gut erhalten ist - dafür haben die Wissenschaftler eine einfache Erklärung.

Eine im Großen und Ganzen überwältigende Schau ist es geworden, veranstaltet vom Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte, in der Funde aus den letzten zwanzig Jahren präsentiert werden, die in Deutschland ausgegraben wurden. Manchmal blinken vor lauter Archäologenstolz vielleicht allzu viele Scherben, Splitter und Reste der Vergangenheit in den Vitrinen. Aber das versteht jeder, denn es ist enorm, was ans Tageslicht geholt wurde. Da strahlen natürlich zuerst die glamourösen Stars, manche schon Weltkulturerbe: die immer wieder in ihrer ästhetischen Klarheit und zugleich geheimnisvollen bronzegrünen Schönheit ungläubige Bewunderung erregende Himmelsscheibe von Nebra aus Sachsen-Anhalt (sie ist noch bis 5. November in Berlin); oder die kleine, aber vor plastischer Wucht schier berstende Frauenskulptur aus Mammutelfenbein, die "Venus" aus dem Hohle Fels im Achtal zwischen Blaubeuren und Schelklingen, mindestens 38 000 Jahre alt.

Nie beschleicht einen auf diesem nicht chronologisch, sondern eben thematisch angeordneten Parcours das Gefühl, es habe einmal eine "gute alte Zeit" gegeben.

Oder man steht vor jenem Wurfgerät, das, rund 300 000 Jahre alt, von homo erectus heidelbergiensis zur Pferdejagd genutzt wurde: Es ist einer der weltberühmten einzigartigen Speere, der ältesten Jagdwaffen der Menschheit, die bei Schöningen in Niedersachsen gefunden wurden. Oder der Blick fällt auf jenes uralte Instrument, hergestellt aus einem Gänsegeierflügelknochen, die wohl älteste Flöte der Welt mit mindestens 35 000 Jahren.

Doch die Ausstellungsmacher haben sich gerade nicht damit begnügt, die grandiosesten Stücke aus den Ausgrabungen der letzten zwei Jahrzehnte besonders attraktiv zu präsentieren. So hängt der Schöninger Speer mehr beiläufig an der Wand, sind die Venus und die Flöte in kleinen Vitrinen eher in Bückhöhe ausgestellt. Den Kuratoren ging es bei allem Respekt vor solchen und anderen einmaligen Exponaten viel eher darum, vor den Neugierigen gewissermaßen Bewegungsprofile und Antriebsfedern unserer Vorfahren begreiflich zu machen, die ständig wanderten oder Handel trieben. Andere mussten fliehen, viele wurden auch als Sklaven verkauft oder zogen als Kämpfer in Schlachten.

Nie beschleicht einen auf diesem nicht chronologisch, sondern eben thematisch angeordneten Parcours das Gefühl, es habe einmal eine "gute alte Zeit" gegeben. Vielmehr lässt sich spüren, wie vital und aufregend, wie effizient und experimentierfreudig, doch auch wie bedroht und gefährdet es durch die Jahrtausende hindurch in jenen Landen zuging, die wir heute mit "Deutschland" benennen. Dieses Nebeneinander von römischen Scherben aus Köln, Fuß- und Handfesseln aus antiker Zeit oder Hacksilber aus dem frühen Mittelalter, um nur drei Beispiele zu nennen, mag manchmal verwirren. Es kann einen auch von der genaueren Begutachtung des Einzelstücks etwas abhalten, aber der gewollte innere Gesamtzusammenhang wird sofort klar.

Alle unsere heutigen Begrifflichkeiten wie Globalisierung, Vernetzung, Migration et cetera beschreiben gesellschaftliche und politisch-wirtschaftliche Phänomene, die so alt sind wie der ganze europäische Kontinent und ihn seit Äonen prägen. Das zeigt diese Schau in jedem Raum. Etwa wie Bernstein von der Ostsee ein hochbegehrtes Schmuckobjekt bis ins alte Ägypten hinein ist; wie Metalle in normierten Barren schon lange vor römischer und christlicher Zeit europaweit transportiert wurden; oder wie Gold aus Cornwall in England in der Bronzezeit verwendet wurde, um Sterne und Monde auf der Himmelsscheibe zu applizieren.

Den großen Lichthof des Gropiusbaus nimmt das römische Köln ein: Die Römer bauten den damaligen Hafen imponierend aus: Gewaltige Eichenpfosten dienten einer mächtigen Spundwand im Hafenbecken, wo Nah- und Fernhandelsschiffe anlegten. In der Mitte des Raumes türmen sich Scherben von Amphoren und anderen Tonbehältnissen, in denen alles Mögliche angeliefert wurde. Reste einer alten Prahm ohne Kiel zeigen, wie tonnenschwere Lasten auf dem Rhein transportiert wurden. Der Grabstein des Untersteuermanns Horus, gefunden in der Nähe von St. Ursula in Köln, erzählt, dass der Seemann in Alexandria geboren und sechzig Jahre alt wurde. Dazu passen die kleinen farbigen Glasfläschchen in Dattelform, hergestellt im östlichen Mittelmeerraum, in denen edle Essenzen verhandelt wurden.

Oft müssen Grabungen in letzter Minute geschehen, denn beispielsweise Autobahnbaustellen, Tagebaue und andere Großbaustellen können Bodendenkmäler gefährden und zerstören. Auch die Einrichtung eines Gewerbegebiets am Rande von Herxheim in der Südpfalz erzwang eine solche Rettungsaktion. Dort befand sich einst eine Siedlung der linearbandkeramischen Kultur aus der Jungsteinzeit (6. Jahrtausend v. Chr.) Dergleichen gab es in ganz Mitteleuropa und darüber hinaus.

Der Schwarm bronzener Pfeilspitzen stammt aus dem Tollensetal (Mecklenburg-Vorpommern). Dort wurde erstmals für die Bronzezeit nördlich der Alpen nachgewiesen, dass hier um 1300 v. Chr. eine Schlacht mit tausenden Kriegern stattgefunden hat. (Foto: Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern)

Um die Siedlung herum verliefen tiefe Gräben, in denen die Ausgräber vielfältig zerschlagene menschliche Knochen aus allen Altersstufen fanden vermischt mit Fragmenten edler Keramik und zerschlagenen Mahlsteinen. All das war absichtlich geschehen. Die Wissenschaftler vermuten hier einen Ritualort, an dem Täter wie Opfer von weit her kamen. Sogar Kannibalismus wird nicht ausgeschlossen. Die zu Kalotten hergerichteten Schädel und die feinen, nun wieder zusammengesetzten Gefäße wirken daher durchaus unheimlich, weil Sinn und Zweck des blutigen Rituals, das an diesem Ort Menschen aus bis zu fünfhundert Kilometern Entfernung anzog, noch nicht wirklich entschlüsselt werden konnte.

Die ungeheure Fülle von mehr als tausend Objekten und ihrer jeweiligen Geschichte könnte Gefühle von Übersättigung und daraus folgender Apathie auslösen.

Auch eine andere Sensation jüngster Forschung erweist sich als grausamer Ort: Im Mecklenburgischen Tollensetal fand um 1300 v. Chr. eine kriegerische Auseinandersetzung statt, denn mindestens 133 junge Männer verloren dabei das Leben. Die Zahl dürfte allerdings viel höher liegen, weil bisher nur ein kleiner Grabungsausschnitt untersucht worden ist. Zum ersten Mal lässt sich da belegen, dass es auch hier in urgeschichtlicher Zeit regelrechte Schlachten gab. Das bisher berühmteste schriftlich gut belegte Beispiel ist die Schlacht von Kadesch 1274 v. Chr. zwischen Ramses II. und dem Hethiterkönig Muwatalli II.. Tollense beweist nun, dass es um diese Zeit auch an der südlichen Ostseeküste Kriegskonflikte mit tausenden von Kriegern gab, was auf Machtstrukturen hinweist, die solche Auseinandersetzungen organisieren konnten. Auch die gefundenen herrlichen Goldspiralringe oder das Schwert nebst Armreif lassen an Kämpfer aus höherer Schicht denken.

Natürlich ist diese Ausstellung auch eine Leistungsschau der verschiedensten archäologischen Disziplinen von der Höhlenforschung bis zur Unterwasserarchäologie, die zum Beispiel die Überreste schwedischer Schiffe bei der Seeschlacht von Bülk 1644 geborgen hat: ein Kanonenrohr, Kugeln oder Teile von einem schwedischen Offiziersdegen.

Unter den vielen Nachweisen und Überbleibseln von Handel und Wandel berührt eines der ersten Scheibenräder aus urgeschichtlicher Zeit. Oder es sind früheste Bemühungen zu sehen, als man Wege mit Hölzern belegte, um einigermaßen sicher Morast und Moore überqueren zu können. Nach den beeindruckenden Zeugnissen von Ritualen, Pilgerreisen und von kriegerischen Zusammenstößen öffnet sich das Kapitel Innovation, als die Uralten begannen, Flöte zu blasen, Höhlen auszumalen oder Pferde, Mammuts, Frauen und Löwenmenschen aus Elfenbein zu schnitzen. Beobachtungen des Himmels liegen letztlich dem Wunderwerk der Himmelsscheibe oder den geradezu magischen Goldhüten zugrunde, deren Zweck noch immer nicht grundlegend geklärt werden kann, außer dass sie wohl bei Sonnekulten eine Rolle spielten. Die ungeheure Fülle von mehr als tausend Objekten und ihrer jeweiligen Geschichte könnte Gefühle von Übersättigung und daraus folgender Apathie auslösen. Doch wer den Gropius-Bau verlässt, befindet sich nicht in einer ganz anderen Gegenwart, sondern weiß sofort, dass diese weit zurückreicht in die Tiefe der Gegenwart aller gerade gesehenen Epochen.

Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland. Gropius Bau, Berlin, bis 6. Januar 2019. www.gropiusbau.de Katalogbuch Michael Imhof Verlag, Petersberg 2018. 480 Seiten, 49, 95 Euro.

© SZ vom 26.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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