Ausstellung Anne Imhof in Paris:Herz aus Glas

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Die deutsche Künstlerin Anne Imhof verwandelt das Pariser Palais de Tokyo in eine Wunderkammer der zeitgenössischen Kunst.

Von Joseph Hanimann

Wenn die Künstlerin Anne Imhof mit Glasscheiben die Ausstellungsräume zerschneidet, wie vor vier Jahren in ihrem Beitrag "Faust" für den deutschen Pavillon auf der Kunstbiennale Venedig, dann nicht, um neue Bedeutungsräume zu schaffen. In Venedig war das vom Glas abgesperrte Darunter und Dahinter ein Ort für die Aktion der Performance-Künstler. Im Pariser Palais de Tokyo, das Anne Imhof auf seinen gut zwanzigtausend Quadratmetern mit ihrer Installation "Natures mortes" von oben bis unten in allen Räumen bespielt, gibt es einstweilen keine Live-Performance. Wohl aber Glaswände, zwischen denen wir Korridore, geschwungene Raumfluchten und Labyrinthe durchschreiten. Imhofs Prinzip einer artistischen Immanenz in der gläsernen Transparenz, das die Ortsspezifik mit zum Thema und das Museum zum Material der Ausstellung macht, erreicht hier ein neues Stadium. Ganz anders jedoch als im Sinn einer Selbstreflexion des Museums. Von Konzeptkunst ist die alle Materialregister durchmischende Anne Imhof weit entfernt.

Für ihre Carte blanche im Palais de Tokyo ließ sie den für die Weltfachausstellung 1937 entstandenen neoklassischen Bau bis auf die rohen Betonpfeiler und löchrigen Backsteinmauern komplett ausräumen. Von den teils besprayten Glaspaneelen - Relikte aus einem italienischen Abrissprojekt - in der Rundung des lichtdurchfluteten Eingangsbereichs bis hinab in die dunklen Nischen des zweiten Untergeschosses entfaltet sie ein Panorama aus Eigenwerken und Gastbeiträgen. Man findet da die für sie charakteristische Spannung von Taghelle und Nachtvision, Kontemplation und Auflehnung, Beklemmung und Ekstase, Boxkampf und Umarmung.

Auch Imhof und ihre Gäste verfallen der Katakombenästhetik im leer geräumten Palais de Tokyo

Die zusammen mit der Künstlerin Eliza Douglas erarbeiteten Klangkompositionen aus verfremdeten Gesangs- und Instrumentalpartien, Schreien, Gelächter und Wortfetzen ergießen sich aus hin und her fahrenden Sound-Rail-Boxen über die präsentierten Werke. Ein Hund jagt in Elaine Sturtevants Videoinstallation "Finite Infinite" aus dem Jahr 2010 wie ein gehetzter Sisyphos-Bruder übers immer selbe Feld. In Cady Nolands Serigrafie "Tanya as a Bandit" (1989) deutet die zu ihren revolutionären Kidnappern übergelaufene amerikanische Bürgertochter Patricia Hearst mit dem Gewehr in der Hand an, dass Endgültigkeit als Erlösung oder Verderben auch für unsere Postmoderne eine Option bleibt.

Mit einem breiten, aber diskret in die Schau gestreuten Panorama eigener Werke fächert Anne Imhof diese Spannung zwischen Immerselbigkeit und radikalem Bruch in alle Nuancen der Wahrnehmung auf. Relikte aus den früheren Arbeiten "Angst", "Rage", "Faust" oder eine mehrstündige Filmaufzeichnung von der Performance "Sex" (2019) in der Londoner Tate Modern zeugen von Kontinuität. Wiederholt auftauchende Metallinstallationen, halb Ruhebett, halb Grabplatte, sowie eine leere Bühne mit bereitstehendem Schlagzeugset setzen den Gegenakzent und lassen offen, ob da etwas schon vorbei ist oder noch kommt. Grellfarbene Ölbildserien aus Imhofs jüngster Produktion rahmen den Erwartungsraum.

Zusammen mit den vier Dutzend Gastexponaten entstehen so reizvolle visuelle Binnenechos. Ein halbstündiges Video mit dem Titel "Wave", in dem Eliza Douglas auf einer schiefen Betonplatte am Meer mit einer Peitsche auf die langsam steigenden Flutwellen einschlägt, greift das Sisyphos-Motiv wieder auf. Das verbissene Einschlagen der schwedischen Künstlerin Klara Lidén mit einem Stock auf ein wehrloses Fahrrad im Video "Bodies of Society" hingegen, das wie eine neckische Liebkosung beginnt, steigert sich zu scheinbar grund- und sinnloser Gewalt.

Aus dem Untergeschoss des Palais de Tokyo klingt derweil das betörende Scheppern des Blechkessels herauf, den David Hammons in der Performance "Phat Free" 1995 bei seinem Rundgang durch die nächtlichen Straßen New Yorks mit dem Fuß vor sich herkickte. Die Totnatur der "Natures mortes", die als Stillleben in Form welkender Blumen, mürber Fleischstücke, herumliegender Gefäße oder Musikinstrumente in der europäischen Malerei Vergänglichkeit allen Seins symbolisierte, kann als Realobjekt in unseren Städten auch einigen Krach machen. In den Polaroidfotos des in Berlin lebenden Cyprien Gaillard von den nachts ausgetrunkenen und auf der Straße liegengebliebenen Jägermeister-Fläschchen oder in Mohamed Bourouissas Wandskulptur "The Ride" (2017) mit historischen Fotos schwarzer Cowboys in Philadelphia auf Autokarosserieteilen verwandeln sich diese Gegenstände aber auch wieder zur leibhaftigen Allegorie.

Groß ist indessen bei so breit angelegter Thematik die Verlockung, der Katakombenästhetik im leergeräumten Palais de Tokyo zu verfallen. Anne Imhof & Guests haben ihr nicht widerstanden. Je tiefer man hinabsteigt in die Untergeschossgruften mit den schrägen Decken und gewölbten Böden, desto emphatischer strecken die Tag- und Sprayfiguren uns ihre Botschaften entgegen. Das Ausstellungsexperiment neigt da zur Demonstration. Mit der Wahl einer Druckgrafik vom archäologischen Fantasten Piranesi, einem Gewölbesaal aus der Serie "Camera sepolcrale", gibt die Künstlerin ihre Faszination für Ruinenbombastik indirekt auch selber selber zu. Warum diese Neigung aber im selben Saal gleich wieder zurücknehmen?

Mithilfe einer nur noch als Foto erhaltenen Collage vom Dadaisten Francis Picabia aus dem Jahr 1920 geht Anne Imhof mit einer Pirouette zu sich selbst wieder auf Distanz. Ein Plüschäffchen räkelt sich da mit dem Schwanz zwischen den Beinen inmitten der Titelrahmung "Natures mortes Portrait de Cézanne Portrait de Renoir Portrait de Rembrandt". Offen bleibt, ob dieses Äffchen sich vor den großen Namen klein macht oder den Anspruch erhebt, sie zu verkörpern. Zu einem unbemalten Bild mit dem Titel "Portrait de Guillaume Apollinaire" erklärte Picabia, anders, als wenn er den Dichter tatsächlich porträtiert hätte, könne bei diesem Bild niemand behaupten, es sehe ihm unähnlich. Will die Künstlerin damit andeuten, ihre Natures mortes seien keine Nature morte? Für die Ausstellung wäre das ein Problem. Picabias Freund Marcel Duchamp, dem am Ausgang mit Sturtevants Video-Reprise des Bilds "Akt, eine Treppe herabsteigend" (1912) gehuldigt wird, erklärte manchmal, es gebe keine Lösung, denn es gebe gar kein Problem. Diese Ironie der Unverbindlichkeit eignet sich schlecht für Anne Imhofs gewichtige Kunst. Denn aus der Tiefe ihrer Themen muss man über die Treppe auch wieder herauffinden. Und da lässt uns die Künstlerin mit ihren Installationen ziemlich allein.

Natures mortes . Carte blanche für Anne Imhof. Palais de Tokyo, Paris. Bis 24. Oktober. Ein Performance-Programm ist ab dem 14. Oktober angesagt. Anstelle eines Katalogs hat Anne Imhof das Heft 31 des Hausmagazins "Palais" mitgestaltet (französisch/englisch, 19,- Euro)

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