Anna salzte nach. Und dies, obgleich es weder Bohnen noch Birnen noch Hammelschulter gab wie in dem berühmten Kochbuch von Günter Grass. Sondern einfach nur Suppe.
Vor sechzehn Jahren war das, als auf dem Salzburger Domplatz die Prominenz für die Pauperisierten aufkochte. Anna Netrebko, die größte Sopranistin der Welt, stand mit Regisseur Martin Kusej am Herd. Auf Seite 72 ihres neuen Kochbuchs (Anna Netrebko: Der Geschmack meines Lebens. Molden Verlag, Wien 2021. 160 Seiten, 30 Euro) kann man sehen, wie Netrebko dabei vor Schreck der Mund offensteht, während Kusej die überkochende Brühe vom Herd nimmt. Ach, macht doch nichts, sagt sein Gesichtsausdruck, viele Frauen können nicht kochen. Und noch viel mehr können nicht anständig singen. Aber - weit gefehlt, Maestro Kusej! Anna Netrebko kann beides.
Deshalb hat sie ihr Kochbuch auch noch vor ihrer neuen CD herausgebracht, die sonst wieder alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. "Amata dalle tenebre" heißt das Album - von der Finsternis geliebt. Es wird am fünften November erscheinen. Obwohl Madame eine lädierte Schulter und erst mal alle Termine abgesagt hat. Das Amata-Album ist ein würdiger Trost. Da singt sie nicht nur Düsteres von Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini, Erhebendes von Richard Strauss und Richard Wagner, sondern auch Herzzerreißendes von Peter Tschaikowsky, zum Beispiel aus der Oper "Pique Dame" die Arie: "Akh, istomilas ya gorem" - genug getrauert. Ja, so kennt man sie. Alles hat ein Ende, nu' ist's auch wieder gut. Eine kräftige Suppe hilft der Seele schnell auf die Beine, und welches Rezept läge da näher als das für einen schmackhaften russischen Borschtsch?
Wichtig: ein großer Topf. Sehr groß
Wie spricht man den eigentlich aus? Ludmilla vom Restaurant "Olga" sagt auf Youtube "Borsch", like a Borsch. Und Anna? Spricht gar nicht. Hat Schulter. Aber man kann sich denken, wie sie "Borschtsch" ausgesprochen hätte, warm und weich und mit all diesen Erinnerungen an die kommunistische Kindheit in Krasnodar. Gleich im ersten Kapitel "Einst im Sowjetland" springt uns nach Blinitorte mit Lachs und Forellenkaviar - herrliche Früchte des Sozialismus - die Borsch entgegen. Oder der Borsch? Ludmilla sagt "ein Borsch". Jedenfalls brauchen wir Berge von Gemüse und ordentlich Suppenfleisch. Im Großmarkt findet sich Schwanz und Brust von der Kuh und die ganze restliche Anatomie, wir entscheiden uns nach drei Rundgängen durch den Kühlraum für die Querrippe vom Jungbullen: "Geboren in Deutschland, gemästet in Deutschland, geschlachtet in Deutschland, zerlegt in Deutschland." Global denken, lokal handeln. Russisches Rind gibt es hier eh nicht.
Deshalb deutscher Jungbulle mit Knochen. Perfekt. Wichtig: Nicht vor- und nicht nachsalzen. Einfach in Wasser aufkochen, sonst wird das nichts mit der Brühe. Netrebko schreibt: in einem großen Topf. Auf einem ihrer Familienfotos im Einleitungsteil des Buches sitzen 13 Personen um den Esstisch. Der Suppentopf sollte also etwa zehn Liter fassen. Jedenfalls mehr als fünf, wie sich zeigt, wenn zu den vorgeschriebenen drei Litern Wasser das Fleisch und Berge von Roter Bete, Knollensellerie, Stangensellerie, Kartoffeln, Karotten, Tomaten, Zwiebeln und Petersilienwurzeln den Wasserspiegel nach und nach über die Fünf-Liter-Marke heben. Zumal Netrebko, anders als Ludmilla, nicht alles Gemüse einfach nur würfelt und man es also schnell wieder aus dem Topf nehmen könnte, wenn der überläuft.
Nein, nur ein Teil kommt in die geometrische Verarbeitung, der Weißkohl dagegen wird in hauchdünne Streifen geschnitten, Karotten und Rote Bete gar geraspelt. Das fühlt sich gleich ganz professionell an. Dem Rezept zufolge soll die Bete zugleich geraspelt und gewürfelt werden. Schwierig. Dagegen verschweigt es die fachgerechte Verarbeitung des Knollenselleries. Was ist da los, was sagte Ludmilla? Keine leichte Entscheidung. Vielleicht den Sellerie würfeln und die Bete raspeln? Es ist nun ein bisschen wie mit dem Vibrato in höherer Lage. Raspelt man lieber den Quartvorhalt auf dem c oder das folgende h? Letztlich ist es eine Charakterfrage. Zu viel ist vulgär, zu wenig wirkt snobistisch. Wie man auch auf ihrem neuen Album hören kann: Bei der Netrebko klingt es immer anständig und unschuldig und wohldosiert.
Ihre musikalische Intensität entsteht nicht durch Lautstärke und Klangfarbenhysterie, sondern, quasi wie bei einem Atomkraftwerk, durch die gebremste, die kultivierte Explosion. Natürlich gehört dazu auch das Gruseln, es könnte doch mal ein Super-Gau stattfinden, und es bräche auf offener Bühne aus ihr heraus, und sie würde etwa als Manon - "einsam, verloren, verlassen" - alles hinschmeißen und ihren Bühnenliebhaber oder das Publikum beschimpfen. Wird nicht passieren, keine Angst. Stattdessen wird sie mit ihrem betörend abgedunkelten Sopran und der weithin strahlenden Höhe, die große Gefühle trägt, ihre Weltschmerzarie vortragen: solo, perduta, abandonata. Und am Ende dieses Albums gar - "mild und leise, wie er lächelt" - in Isoldes Liebestod versinken.
Und so ausbalanciert sie ihr klingendes Bühnengefühlsleben im Griff hat, so ausgewogen erweist sich auch das Gaumenspiel ihres Borschtsch'. Lyrische Weite und angetäuschte Koloratur, rassige Würze und lauernde Säure begegnen sich in stiller Harmonie. Ja, man kann nach etwa drei Stunden würfeln und raspeln und aufkochen - "den Schaum abschöpfen" - sagen, es schmeckt wie in Russland, damals im Café Puschkin am Twerskoy Boulevard, wo die Café-Arbeiter deinen Rolls-Royce um den Block fahren, bis du fertig gegessen hast. Das kann dauern, aber Parkplätze sind auch in Moskau rar. Zum Dessert gab es damals noch eine aufwendig vielschichtige Eisbombe. Danach sucht man im Kochbuch der Netrebko, der bodenständigsten aller Operndiven, vergebens.