Zu Beginn wird eine Tür aufgebrochen. Besorgte Nachbarn, die Feuerwehr, schweres Gerät. Eine Standardszene, meist wird das einfach so weggefilmt. Drinnen stimmt etwas nicht, also gehen wir da jetzt rein.
Große Filmemacher funktionieren aber nicht so, da hat schon die erste Sekunde eine andere Bedeutung. Michael Haneke will, dass wir mit in dieser Wohnung sind, von Anfang an. Dies ist ein geschützter Raum, dessen Intimität gerade verletzt wird. Nicht jeder ist darin zugelassen - wir als Zuschauer aber schon.
Die Kamera des wunderbaren Bildgestalters Darius Khondji steht also schon innen, als der Eingang auffliegt, als die Eindringlinge sich umsehen, die großbürgerlichen Pariser Flügeltüren öffnen, sich die Nasen zuhalten, die Fenster aufreißen. Und zusammen entdecken wir dann diese Frau auf dem Bett: Feierlich in Schwarz gekleidet, die Hände gefaltet, mit Blüten geschmückt liegt sie da. Die Verwesung hat längst begonnen.
Es ist also kein Geheimnis, dass der Film "Amour / Liebe" auf den Tod hinführt. Trotz seiner scheinbaren Präferenz für das glückliche Ende macht das Kino so etwas gern, der Inhalt der Geschichte ist hier nicht das Drama. Es geht um die Führung auf dieser Reise - und einen besseren Führer als Michael Haneke kann man sich hier tatsächlich nicht vorstellen.
Fast atemberaubende Konzentration
Das beginnt schon - Sprung zurück in die Vorgeschichte - mit der Einführung der beiden Protagonisten, Anne und Georges, als der Tod noch in weiter Ferne liegt. Haneke zeigt sie in einem Saal voller Zuschauer im Théâtre du Champs-Élysées, in Erwartung eines Klavierkonzerts, in Vorfreude und stiller Komplizenschaft. Unter den bestimmt einhundert Konzertbesuchern, die man in dieser langen Einstellung sieht, hebt er sie allerdings in keiner Weise hervor, das Auge muss sie geradezu suchen: Als sei ihre Geschichte nur eine von hundert möglichen, als stünden diese beiden Achtzigjährigen ganz für das Ende des Lebens selbst, und für das Weiterbestehen der Liebe. Au hazard, Anne & Georges.
Die Musik, die sie dann hören, ein Impromptu von Schubert, die Verzauberung, auf die sie sich so erkennbar gefreut haben - Haneke erlaubt sie den Betrachtern im Kino nur denkbar kurz. Ein paar Takte laufen noch, dann fahren Anne und Georges im Bus schon wieder heim, glücklich plaudernd, noch hören wir sie nicht. Und wieder sind wir vor ihnen da, als sie ihre weitläufige Wohnung betreten mit den schönen Pariser Flügeltüren und dem dunkelglänzenden Parkett.
Anne und Georges werden dieses Refugium noch ein paar Mal verlassen - der Film allerdings nicht mehr. Er erlaubt sich kein einziges Bild auf der Straße, an der Luft, unter offenem Himmel, in der Natur. Die Folge ist eine enorme, fast atemberaubende Konzentration - aber auch eine subtile, beinah unmerkliche Manipulation. Diese beiden haben sich in ihren Gewohnheiten, ihrer Zuneigung füreinander, im Wunder ihres vollkommenen Sich-Ergänzens eingeschlossen, so wie uns Haneke in dieser Wohnung einschließt.
Was immer ihnen nun passiert, es kann ihnen nur gemeinsam passieren. Was immer sie füreinander tun, es wird folgerichtig und ohne Alternative erscheinen, auch wenn es objektiv nur der Autor und Regisseur ist, der es so haben will. Wenn dieser Film also an einem gültigen Gemälde der Liebe malt - und nichts anderes verheißt ja der Titel -, dann ist das schon mal eine starke Grundierung.
Als Nächstes muss man natürlich die Vertrautheit dieser beiden Menschen spüren, die Rituale ihrer Ehe. Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant, die beiden Stars des Films, spielen das wirklich perfekt. Sie sind selbst beide jenseits der achtzig, und man spürt, dass sie auf sehr viel Leben zurückblicken - Trintignant zum Beispiel auf den gewaltsamen Tod seiner Tochter Marie. Abgesehen davon, dass der Film ihre Gesichter gern in ein weiches Fensterlicht hüllt, macht hier auch niemand den Versuch, die Flecken und Rötungen und die durchscheinende Zerbrechlichkeit des Alters zu beschönigen.
"Trinken wir noch ein Glas?" fragt er.
"Ich bin müde."
"Ich hab noch Lust auf ein Glas."
"Tu dir keinen Zwang an."
"Hab ich dir gesagt, dass du gut ausgesehen hast, heut Abend?" Das ist wieder er.
"Was ist denn mit dir los?" antwortet sie, aus dem Off, aber es liegt ein wunderbar geschmeichelter Ton in ihrer Stimme.
Auch das ist mehr oder weniger eine Standardszene - etwas in der Art muss man mal zeigen, wenn es um eine alte Liebe geht, jedes Fernsehspiel würde es ähnlich machen. Der Unterschied ist, dass Haneke sich auch hier wieder äußerste Restriktionen auferlegt.
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Ein "Ich liebe dich" wird man in diesem Film nicht hören, und von nun an wird auch die Zuneigung dieser beiden Menschen nur noch zwischen den Zeilen spürbar sein: in der Art, wie sie einander Alltagsdinge und Geschichten von früher erzählen - und vor allem darin, was sie tun.
Denn eines Morgens beim Frühstück sitzt Anne plötzlich starr am Tisch und reagiert nicht mehr auf Georges' Worte. Wie er da ihren Kopf umfasst und ihr in die Augen schaut, voll Angst und unendlicher Sorge, und wie sie zurückschaut, mit fremdem Blick - das ist dann das erste Mal, dass wir ihren Gesichtern wirklich nahekommen. Diese beiden Blicke - nebenstehend sind sie abgebildet - sind im Übrigen auch die einzigen Fotomotive, die der Regisseur zur Bewerbung seines Films überhaupt freigegeben hat.
Ein Schlaganfall, eine nicht gelungene Operation, eine rechtsseitige Lähmung des Körpers, ein neues Leben für Anne zwischen Rollstuhl und Hilflosigkeit - der Film verliert wenig Zeit auf seinem Weg in die Gebrechlichkeit. Umso mehr klammert man sich an die schönen und tröstlichen Momente: Anne war selbst eine große Pianistin, der junge Virtuose, dessen Konzert sie mit Georges am Anfang gehört hat, war einmal ihr Schüler. Er besucht sie dann auch voller Dankbarkeit und erschrickt über ihren Zustand. Sie wünscht sich, er solle sich noch einmal an den großen Konzertflügel setzen, um eine Beethoven-Bagatelle zu spielen, seine erste Schulaufgabe. Und das tut er dann auch.
Andere Filme würden geradezu schwelgen in diesem erinnerungsschweren Musikmoment - hier darf er vielleicht zehn Sekunden dauern. Mehr ist nicht drin, denn natürlich hat dieser Regisseur auch einen Ruf zu verteidigen - den Nimbus einer gewissen Gnadenlosigkeit. Früher waren es pädagogische Exerzitien und Provokationen, mit denen er seine Zuschauer herausforderte - wie in "Funny Games", seinem berühmt-berüchtigten, antibürgerlichen Psychopathenspiel. Später, in Werken wie "Caché", ging es immer noch darum, die Voraussetzungen des Schauens selbst zu thematisieren, das Publikum aus seiner Illusion zu reißen, misstrauisch zu bleiben gegen alle Manipulationskräfte des Kinos. Da wütete noch die Entschlossenheit, das eigene Schaffen stets auf einen fortschrittlich-intellektuellen Begriff zu bringen - aber wie das so ist mit dem Alter: Man wütet sich langsam aus. "Alles, was auf den Begriff gebracht wird, ist künstlerisch tot", sagt Haneke heute.
Kein Gedanke also daran, hier den Bann der Illusion zu brechen und von seinen umwerfenden Darstellern abzulenken, wenn nun die verzweifelte Tochter (Isabelle Huppert) auftaucht, wenn die Stimmbänder nicht mehr gehorchen, wenn Windeln angelegt und herzloses Pflegepersonal entlassen werden muss, wenn Anne schließlich sterben will, wütend und aufsässig wird wie ein kleines Kind - und dem unendlich geduldigen Georges schließlich das Wasser aus ihrem Trinkbecher ins Gesicht spukt. Seine Reaktion, und ihr gemeinsames Erschrecken darüber, wird die äußerste Prüfung ihrer Liebe sein - ein Abgrund, der sich unter den beiden öffnet. Und so unaufhaltsam ihre Reise ihrem Ende entgegengeht - abstürzen werden sie nicht.
Was ist also geblieben von Hanekes Gnadenlosigkeit? Vor allem sein unheimlich genauer Blick, der mit den Jahren nur immer schärfer geworden ist. Die vollkommene Kenntnis seiner Mittel, die Entschlossenheit seiner Entscheidungen - und eben die fundamentale Weigerung, in den Gefühlen, die er auslöst, zu schwelgen.
Frappierender Schub der Anerkennung
Aber wie das so ist mit Momenten, die man nicht auskosten darf - man wird nur immer gieriger danach, geradezu süchtig. Und die Suchtstoffe der Phantasie, die im Kopf dabei frei werden, sind ohnehin stärker als jedes Bild, das man zeigen könnte. Das große Gemälde der Liebe, hier ist es am Ende die sparsamste aller Skizzen - allerdings ohne einen einzigen falschen Strich. Das Angebot, sie auszufüllen, mit einer Idee, die ohnehin nur jeder für sich selbst finden kann - man könnte das als ein echtes Geschenk bezeichnen.
Jedenfalls ist es kein Zufall, dass Michael Haneke gerade in dieser letzten Phase seines Schaffens, die mit dem "weißen Band" begann, nun einen frappierenden Schub der Anerkennung erfährt. Die zweite Goldene Palme in Cannes in nur drei Jahren, der Golden Globe und zahllose weitere Filmpreise, jetzt kommt vielleicht noch der Oscar dazu, außerdem eindrucksvolle Zuschauerzahlen: Der Einzige, der da vielleicht noch Einwände erheben würde, ist Michael Haneke selbst - in einer zwanzig Jahre jüngeren, radikaleren Inkarnation.
"Ich hatte es immer als obszön empfunden, einem mit darstellerischem Furor gestalteten Leiden oder Sterben zuzusehen - es bestahl die tatsächlich Leidenden und Sterbenden um ihr letztes Gut: die Wahrheit", schrieb er einmal Mitte der Neunzigerjahre. Nun, man muss sagen: Dieser Film ist mit Furor gestaltet - auch wenn dieser Furor leise, fast unmerklich brennt. Er leitet den Zuschauer mit jedem Bild, jeder Kadrierung, jeder Geste seiner Schauspieler - wie die Meister des Films das eben tun. Und was er zeigt, ist Kino; die Wahrheit des Leidens und Sterbens - die kennt dann doch nur das Leben selbst.
Amour, F/D/Österreich 2012 - Regie und Buch: Michael Haneke. Kamera: Darius Khondji. Mit Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle Riva, Isabelle Huppert, Alexandre Tharaud. X-Verleih, 127 Minuten.