Die Deutschen lieben Aldi. Aber wenn an der Kasse Toastbrot, Nudeln oder Bananen in eine Plastiktüte mit blauem Streifenmuster auf weißem Grund wanderten, dürften nur die allerwenigsten gewusst haben, dass sie ihre Einkäufe jahrzehntelang und millionenfach in moderne Kunst einpackten. Mit der im letzten Sommer von dem Handelskonzern verkündeten schrittweisen Umstellung von Einwegtüten auf Mehrwegbeutel, die in diesem Herbst abgeschlossen sein soll, kommen auch neue Designs und Materialien in die Filialen - sogar ein Jutebeutel. Der war früher eher die Insignie der Ökobewegung. Die klassische Alditüte mit dem blau-weißen Diagonalmuster jedoch, das bekannteste Kunstwerk Deutschlands, wird ohne großes Theater abgewickelt. Gestaltet wurde die markante Einkaufstüte Anfang der Siebzigerjahre als Auftragsarbeit von Günter Fruhtrunk (1923-1982) - einem geometrisch-abstrakt arbeitenden Maler, mit dessen Formensprache wohl die meisten Deutschen aufgrund der großen Verbreitung der Tüte vertraut sind. Den Namen des Documenta-Künstlers und Teilnehmers der Venedig Biennale von 1968 hingegen kennen mit Sicherheit nur die wenigsten.
Mit der Zeit erinnerte nicht Aldi an Fruhtrunks Kunst, sondern seine Kunst an den Discounter
Kurz nach Annahme des Aldi-Auftrags, so geht eine in diesem Zusammenhang oft kolportierte Geschichte, soll Fruhtrunk die Räume seiner Klasse an der Münchener Akademie - wo er seit 1967 als Professor unterrichtete - mit den Worten "ich habe gesündigt" betreten haben. Dann zahlte der Künstler eine Art symbolisches Bußgeld in Höhe von 400 Mark in die Kaffeekasse ein. Heute, wo Geschäftstüchtigkeit auch in der Kunstwelt eher als Tugend gilt, klingt das seltsam. Doch tatsächlich litt Fruhtrunks Ruf im Gegensatz zu anderen Künstlern nachhaltig. Anders als etwa bei dem Stuttgarter Maler und Grafiker Anton Stankowski, der sich 1972 mit seinem Entwurf für das Logo der Deutschen Bank ("Schrägstrich im Quadrat") gegen sieben Mitbewerber durchsetzte oder Victor Vasarely, der 1972 ein Rauten-Logo für den französischen Autokonzern Renault entwickelte, erzeugte Fruhtrunks Aldi-Entwurf eine Art ästhetischen Feedback-Loop, der die Wahrnehmung seines Werks belasten sollte: nicht Aldi erinnerte an Fruhtrunk, sondern Fruhtrunk-Kunst erinnert an Aldi.
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Dass der Discounter einen abstrakt malenden Künstler mit der Gestaltung einer Tüte beauftragte, ist dem Kunsthistoriker Reinhard Spieler, der in Ludwigshafen am Rhein im Winter 2011 die Gruppenausstellung "I love Aldi" kuratierte, kein Zufall: "Die Logos der Discounter entstammen weitgehend der Bildsprache der konkret-konstruktiven Kunst der 1970er-Jahre: schnörkellos einfache, abstrakte Bildmarken in den Grundfarben, die sich unmittelbar einprägen, gerade weil sie keinerlei anekdotisch-narrative Substanz enthalten. Ob Aldi, Lidl, Penny oder Ikea - sie funktionieren alle nach dem gleichen Prinzip." Es half auch nicht viel, dass die Bilder Fruhtrunks lange Zeit als Chiffren für die Modernität der Bundesrepublik an sich galten. Florian Illies, der Berliner Autor und Kunsthistoriker, beschreibt Fruhtrunks Kunst gar als Teil des "ästhetischen Wiederaufbauprogramms" im Westteil Deutschlands. Dass Fruhtrunk etwa mit dem einflussreichen Philosophen Jürgen Habermas freundschaftlich verbunden war oder Ende der Siebziger gemeinsam mit dem Architekten Paolo Nestler auf Einladung der deutschen Regierung den "Quiet Room" des UN-Sicherheitsrates in New York gestalten durfte, gilt Illies gar als "Ausdruck seiner inoffiziellen Erhebung zum Staatskünstler der sozialliberalen BRD". 1982 nahm sich Fruhtrunk in seinem Münchner Atelier das Leben. Als junger Mann hatte er im Zweiten Weltkrieg eine schwere Kopfverletzung erlitten, von der er sich nie ganz erholte.
Das Unternehmen scheint sich für den Gestalter seiner Tüten nicht mehr zu interessieren
In den frühen Nullerjahren wurde die Fruhtrunk-Tüte dann schließlich zum Symbol der "Aldisierung": Damit ist der Prozess der gesellschaftlichen "Normalisierung" der Armut, auch durch die Hartz-Reformen der rot-grünen Schröder-Regierung, gemeint, der auf seltsame Weise mit dem Aufstieg der "Geiz-ist-geil"-Kultur zusammenfiel: "Das deutsche Symbol," so der Autor Helmut Kuhn in einer 2007 erschienen Armuts-Reportage, "das echte Arme und reiche Arme vereint, ist die Alditüte". Auch deshalb ist es nahezu unmöglich, die Alditüte als reines ästhetisches Objekt oder als den perfekten Bildträger mit Massenwirkung zu betrachten. Als der Berliner Maler Hans-Jörg Mayer vor ein paar Jahren das von ihm im Netz gefundene Foto einer leeren Alditüte als Vorlage für mehrere großformatige Gemälde benutzte, ging es ihm in der Hauptsache um das abstrakte Muster, welches er für ein eigenes Bild nutzen wollte. Eines davon nannte er "Fruhtrunk reloaded", so als handele es sich um die Fortsetzung eines Blockbuster-Filmes. Als Student an der Münchener Kunstakademie Anfang der Achtzigerjahre war er Fruhtrunk auf den Fluren der Kunsthochschule noch persönlich begegnet. Ein anderes Bild der gleichen Serie heißt hingegen "Fruhtrunk Hartz IV". Wer sich dessen bewusst ist, wie weit Armut unter bildenden Künstlern tatsächlich verbreitet ist, der sieht in Mayers Bildern noch mehr als eine Fruhtrunk-Hommage.
Berthold Albrecht (1954-2012), der äußerst wohlhabende wie öffentlichkeitsscheue Miteigentümer und Manager von Aldi Nord und Trader Joe's, war ein Kunstliebhaber und sammelte Oldtimer. Das lernte die Öffentlichkeit im Laufe eines aufsehenerregenden Prozesses seiner Erben gegen seinen Kunstberater, der im vergangenen Jahr zu Ende ging. Albrechts Unternehmen hingegen scheint sich nicht sonderlich für den Gestalter ihrer berühmten Corporate Identity zu interessieren. Als der Konzern in einer Pressemitteilung die Einführung von neuen und umweltfreundlichen Mehrwegtüten "im bekannten Aldi Nord Design" verkündete, wurde Fruhtrunk mit keiner Silbe erwähnt. Sehr viel wichtiger war es zu betonen, dass die neue Tasche mit einem Preis von 45 Cent "die günstigste Alternative im bestehenden Angebot an Mehrwegtragetaschen" ist. Aus der Discounter-Logik macht das Verschweigen des Namens wahrscheinlich Sinn. Selbst wenn es sich um Markenware handelt, wird sie doch traditionell als No-Name-Produkt verramscht.