Kunst und Politik:In Kassel zeigt sich der Riss, der durch die deutsche Gesellschaft geht

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Der amerikanisch-nigerianische Künstler Olu Oguibe am 7. August in Kassel neben einem Plakat, das seinen Obelisken zeigt. (Foto: dpa)

Das "Fremdlinge und Flüchtlinge Monument" von Olu Oguibe war eines der beliebtesten Werke der Documenta 14. AfD-Politiker wollen seinen Ankauf verhindern - und mobilisieren damit das weltoffene Kassel.

Von Catrin Lorch, Kassel

An diesem Nachmittag hält sich Thomas Materner am Rand des Kasseler Opernplatzes auf, in einiger Entfernung zu denen, die Decken ausgebreitet haben, Melonen in Scheiben schneiden, Wasser ausschenken und Flugblätter verteilen. Die "Ordner" - sie tragen weiße Armbinden mit Filzstift-Kritzelbuchstaben - sind Studenten der Kunstakademie, sie haben gemeinsam mit dem Documenta-Forum zu dem Picknick geladen, mit dem sie ein Zeichen setzen wollen für die Freiheit der Kunst. Als aus der Menge ein schmaler Mann mit einem karierten Hut auftaucht, klatschen die Menschen minutenlang. Es ist Olu Oguibe, der Künstler, dessen "Fremdlinge und Flüchtlinge Monument" der Stadt Kassel seit Monaten Schlagzeilen beschert, weil AfD-Politiker es diffamieren und den Ankauf und den Verbleib auf dem zentralen Königsplatz bekämpfen. Oguibe ist in der Stadt, um Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) zu treffen.

Was das Zeug zur Lokalposse hat, findet auch deswegen in die internationalen Medien, weil der 16 Meter hohe Obelisk, auf dessen vier Seiten in goldenen Buchstaben das Bibelzitat "Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt" in den Sprachen Deutsch, Türkisch, Arabisch und Englisch funkelt, eines der beliebtesten Kunstwerke der Documenta 14 war. Er symbolisierte die weltoffene, hoch politische Documenta. Und stach bei Umfragen alle anderen Werke aus. Von der Begeisterung ist noch einiges da - die Demonstranten bitten Oguibe um Selfies, umarmen ihn, eine ältere Dame, die stundenlang gewartet hat, überreicht dem Künstler in einer Tüte kirchliches Archivmaterial zum Thema "Biafra" - gemeint ist die Hungerkatastrophe in Oguibes Geburtsland, das heute Nigeria heißt. "Er hat die Katastrophe als Kind ja miterlebt und in seiner Kunst verarbeitet", erklärt sie, während sich ihr Nachbar an die Fronleichnamsprozession im Frühjahr erinnert: "Damals haben hier Tausende gejubelt, als gefordert wurde, das Denkmal stehen zu lassen. Das ist ja auch ein bewegender Satz, das Bibelzitat, es klingt wie ein Dankeschön."

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Fragt sich Thomas Materner, er ist AfD-Abgeordneter, in diesen Minuten, was da schiefgelaufen ist? Eigentlich hätte der Nachmittag ja seine Veranstaltung sein sollen. Es war seine Idee, dem Künstler "einen Empfang" zu bereiten, als er davon hörte, dass Oguibe zu einem Gespräch mit dem Bürgermeister kommt. Wobei die Formulierung "ein Empfang" in der Pressemitteilung eher bedrohlich klang. Ausgerechnet die "Documenta-Stadt Kassel", so scheint es, ist einer der Orte, an dem sich der so häufig zitierte "Riss", der durch die deutsche Gesellschaft gehe, sichtbar wird. An dem die Sprachlosigkeit zwischen den Rechten und den anderen, das ganze Unverständnis sich artikuliert, in Pressemeldungen, Transparenten und Flugblättern.

Im Telefoninterview wird Thomas Materner nicht viel präziser. Er wolle bei dem "Empfang" "deutlich machen, dass man dagegen ist". Er habe ja "nicht gedroht". Warum er gegen das Monument sei? Da wird Materner gesprächiger, sagt, das "plumpe Machwerk" sehe aus wie "ein Phallussymbol" und sei eben "auch noch mit dem Thema Flüchtlinge besetzt". Er habe sich als Anwohner "massiv geärgert", nur deshalb sei es zu jener seither oft zitierten Äußerung von der "entstellenden Kunst" gekommen. Was die Medien dann "gleich wieder mit entarteter Kunst in Verbindung gebracht haben".

"Kassel ist gegen das Kunstwerk", sagt Materner, "80 bis 85 Prozent der Leute lehnen es ab". Und fordert, dass die Stadt "endlich einen Schlussstrich zieht", ein Bautrupp könne die Angelegenheit schnell beenden. "Je länger sich die Auseinandersetzungen hinziehen, umso mehr schadet das der Weltmarke Documenta. Und hinter der stehe ich natürlich." Oguibe sei dagegen einzig daran interessiert, seinen Namen durch weitere "Eskapaden" bekannt zu machen. Wobei der AfD-Politiker selbst stolz auf die eigenen Schlagzeilen hinweist. "Man findet bei Google Einträge, da stehen Materner und AfD inmitten von japanischen Schriftzeichen." Und was ist nun mit dem angekündigten Empfang? "Daraus wird wohl nichts, weil der Bürgermeister uns den Termin des Gesprächs nicht mitteilt."

Eigentlich ist immer jemand bei ihm, dem Obelisken nämlich. Und so soll es bleiben, hofft der Künstler Olu Oguibe. (Foto: Catrin Lorch)

Ob er nun an der Terminfrage gescheitert ist oder daran, dass die AfD in Kassel nicht eben viel Aktivierungspotenzial hat, wie es Rainer Hahne, Chef des Anzeigenblatts Extra Tip einschätzt? "Die ganze Kagida hier, das sind nicht mehr als 30, 40 Köpfe", vermutet er. Hinter der AfD allerdings stünden in der Bevölkerung eben doch mehr, als man vermutet. Mehr als zehn Prozent der Wählerstimmen machen die Partei in der Stadtverordnetenversammlung zur drittstärksten Kraft.

Gerade ist Wahlkampf, die hessischen Landtagswahlen finden Ende Oktober statt. Ist das der Grund, warum Oberbürgermeister Geselle die Kunst zur Chefsache erklärt hat? Er brandmarkte die kontroverse Documenta 14 als defizitär, während sie noch lief. Dann wurde der Ankauf des Obelisken zum politischen Zankapfel. Nun soll das Werk erst dann erworben werden, wenn der Künstler zustimmt, dass sein Werk auch andernorts - beispielsweise vor dem bislang nur geplanten Documenta-Institut - installiert wird. Andernfalls wird es abgerissen. Das Ultimatum an Oguibe lief Ende Juli aus.

Dabei hätte der Obelisk zur Erfolgsgeschichte getaugt. Mehr als sechshundert Bürger spendeten für den Ankauf - und der Künstler, der zunächst eine Million Euro gefordert hatte, senkte den Preis auf genau die 126 000 Euro, die so zusammengekommen waren. Im Dezember, so erzählen die Kasseler, habe es auf dem Weihnachtsmarkt Mini-Obelisken zu kaufen gegeben, mit Schriftzug aus Zuckerguss.

An diesem Tag aber gehört die Öffentlichkeit jenen, die mit Flugblättern darauf hinweisen, dass "die Documenta-Stadt Kassel eine besondere Verpflichtung im Umgang mit Kunst auch im öffentlichen Raum" hat. Neben denen, die in der Fußgängerzone picknicken, steht Hans Eichel, ehemaliger Oberbürgermeister von Kassel und ehemaliger hessischer Ministerpräsident. Er sagt, er habe genau solche Projekte der Documenta 14 geschätzt, die sich mit der Stadt, ihrer Geschichte und Gegenwart befassen: "Das war die erste Documenta überhaupt, die wirklich etwas mit Kassel zu tun hatte, auch da, wo es wehtut." In der Mitte der bunten Decken tritt Dechant Harald Fischer ans Mikrofon, ein hoch gewachsener Mann mit langem weißen Bart, den man "das gute Gewissen von Kassel" nennt. Er argumentiert nicht lange: Die rechten Kunstfeinde seien einfach "Dumpfbacken".

Gut dreihundert Menschen beklatschen eine Kunstkritikerin und eine Abgesandte der "Seebrücke", eines Vereins für die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer, den Künstler und den Akademiedirektor, die sich alle für den Obelisken am aktuellen Standort aussprechen. Der "Empfang" für Olu Oguibe ist ein Willkommen. Hatte er keine Angst, nach den Ankündigungen der AfD? "Nein", sagt Oguibe, "ich fürchte mich nicht vor Demonstrationen, höchstens vor dem Hass Einzelner."

Er ist an diesem Tag mit seinem Galeristen angereist, Alexander Koch aus Berlin. Auf eigene Kosten, wie Koch betont, ein lange geplanter Zwischenstopp auf dem Rückreise von Essen nach Connecticut, wo Oguibe lebt. Sein jüngstes Kunstwerk soll bei der Ruhrtriennale gezeigt werden und entsteht in einer Werkstatt in Kassel.

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Oguibe hat sich im Streit um den Ankauf kaum zu Wort gemeldet, vielleicht auch, weil er als ehemaliger Aktivist gelernt hat, seine Interessen Zug um Zug voranzubringen. "Man muss solche Situationen angehen wie ein Schachspiel", sagt er: "Vieles ist möglich, wenn man alle Figuren im Blick hat." Die Metapher ist stimmig, sie reicht von einer Anspielung auf klassische Kriegskunst bis zum Verweis auf Marcel Duchamp, den Vater der Konzeptkunst, der sich als Künstler aus der Öffentlichkeit verabschiedet hatte, um nur noch Schach zu spielen.

Die Partie Oguibe vs. Lokalpolitik allerdings entwickelt sich so sprunghaft wie ein Ego-Shooter. "Dass die Politik der Kunst ein Ultimatum stellt", sei neu, konstatiert der künstlerische Leiter der D 14, Adam Szymczyk. Manchmal scheint es, als versuche die Stadt mit dem Obelisken die letzte Erinnerung an eine wenig geliebte Documenta auszutreiben. Dann wieder steht er wie ein Blitzableiter da, an dem sich der Hass auf die Flüchtlingspolitik entlädt. "Das Problem ist, dass diese Skulptur Raum einnimmt, dass sie die Mitte eines Platzes beansprucht", sagt Ayşe Gülec. Zudem provoziere die Vielsprachigkeit: "Gerade Türkisch ist in Kassel sonst doch nirgends zu sehen." Gülec lebt in Kassel und gehörte zum Team der Documenta 14. Sie hat die Petition für den Erhalt von Oguibes Monument im Internet initiiert und einen Protestmarsch organisiert. Der Obelisk werde von vielen angegriffen, wie ein Fremdkörper oder eben der Körper des Fremden, sagt sie: "Aber auch die, die ihn schätzen, gehen sehr körperlich mit ihm um." Die Menschen setzten sich nahe an seine kühle Seite, "er ist als Treffpunkt präsent, eigentlich ist immer jemand bei ihm".

Schon einmal sollte in Kassel ein Obelisk dem Mob weichen. Er stand vor dem Rathaus, zwölf Meter hoch in der Mitte eines Brunnens, den der Kasseler Sigmund Aschrott gestiftet hatte. Weil er Jude war, zertrümmerten Nazis sein Geschenk im April 1939.

Die Kunstwissenschaftlerin Nora Sternfeld, sie hat die Documenta-Professur inne, hat diese Geschichte erforscht. Ein Aufsatz dazu von ihr endet mit der Feststellung: "Es scheint kein Zufall zu sein, dass sehr rechte Politiker und Politikerinnen heute Worte wählen, die an die Worte der Nazis erinnern. Während also in Kassel das Wort ,entstellt' fiel, hat man in Österreich in den letzten Wochen etwa von einem Politiker der FPÖ von ,abartiger Kunst' gehört."

Dass Kunst wieder wegen ihres Inhalts bekämpft wird, ist in Deutschland neu, wo Monumentalskulpturen von NS-Bildhauern wie Arno Breker oder Josef Thorak ungerührt Museumsdächer oder Schulhöfe beanspruchen. Fast scheint es, als habe Olu Oguibe die Kämpfe um Denkmäler im Süden der USA im vergangenen Jahr nach Deutschland exportiert. Seit dem Streit um das Mahnmal für Ermordete des Holocaust in Berlin ist schon lange keine solche Auseinandersetzung mehr so eskaliert wie der Kasseler Streit.

Wie geht es weiter? Am Tag nach der Begegnung mit Geselle sitzt Olu Oguibe in einem Café und kann es nicht sagen; es ist "Stillschweigen" vereinbart worden über den Inhalt des insgesamt "positiven Gesprächs", heißt es in der Pressemitteilung. Hat der Bürgermeister ihn wie einen US-Künstler behandelt, der einen Ankauf verhandelt? Oder wie einen Nigerianer, der als ehemaliger Exilant eine Bleibe für sein aktivistisches Monument sucht? Oguibe überlegt, muss plötzlich lachen: "Es war eigentlich wie bei diesen Gesprächen, die einem höherrangige Polizisten gewähren. Also nicht der Typ, der dir auf der Straße Handschellen anlegt. Sondern das Treffen mit dem Senior Officer, der klarmacht, dass dieser Austausch dich aufwertet, eine Ehre ist." Geselle ist ehemaliger Polizeibeamter und bemüht auch in der Sphäre der Hochkultur Metaphern aus der kopfsteinpflasterharten Realität des Streifendienstes.

Und doch: Das Ultimatum ist abgelaufen, der Showdown ist vorbei, der Obelisk wird bleiben. Schon weil die Politiker offensichtlich das Kleingedruckte im Vertrag nicht gelesen haben. Dort steht, dass er bis zum Ankauf dort stehen bleiben darf, spätestens bis Ende September.

Vorerst setzt sich die Debatte in den Kommentarspalten der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen fort. Rudi37 weiß, dass die Stadtverwaltung das Problem ist, die sich, anders als die "breite Bevölkerung" immer "als Documenta-Stadt darstellen will". Xizor84 fordert: "Am besten wir stampfen die Documenta ein." "Brillenliese" konstatiert, dass "Demokratie die Diktatur der Schwachsinnigen" sei.

Olu Oguibe, seit Jahren Amerikaner, zitiert den Terminator, Arnold Schwarzeneggers Paraderolle, mitsamt dessen teutonischem Tonfall: "I'll be back", sagt er. Kassel sollte sich auf Fortsetzungen einstellen.

© SZ vom 10.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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