Popkolumne:Seemannslieder und andere Kuriositäten

Lesezeit: 3 min

Auch wenn es so aussieht: Snoop Dogg singt aktuell keine Sea Shantys. Kommt aber bestimmt noch. (Foto: Chris Pizzello/Invision/AP)

Kaum ein Medium hat die Pop-Charts in diesem Jahr so sehr beeinflusst wie Tiktok. Eine sehr subjektive Auswahl featuring den in China plötzlich berühmten Achim Reichel.

Von Jakob Biazza

Achim Reichel ist in China jetzt ein, wie man wohl sagen würde, großes Ding. Konkreter: Der Sänger steht dort aktuell auf Platz eins der Shazam-Charts. Keinen Song suchen die Chinesen mit der Musikerkennungs-App gerade mehr als "Aloha Heja He". Das liegt an Tiktok, und man muss hier womöglich ein paar Dinge erklären. Nicht, weil Tiktok oder Achim Reichel nennenswert neu wären, sondern weil die Schnittmengen womöglich klein sind, will sagen: Wer Achim Reichel kennt, kennt Tiktok nicht zwangsläufig. Und vice versa.

Ein paar Grundlagen also: Achim Reichel ist ein deutscher Musiker und Komponist, Jahrgang 1944. Seine erfolgreichste Zeit als Solokünstler lag um die frühen Neunziger. Er sang damals viel über die Seefahrt - Männer, Bärte, Salzwasser, Tattoos, glänzende Leiber, sengende Sonne, süße Kleine. Diese Sachen. Neben dem Hit "Aloha Heja He" hatte er Songs wie "Kuddel Daddel Du" oder "Halla Ballu Ballé". Ein Lokalheld für die Großsehnsüchte nach der Ferne. Sehr glaubwürdig darin.

Tiktok ist ein soziales Netzwerk aus China, das als Videoportal angefangen hat. Man stellt es sich mittlerweile am besten vor als eine Mischung aus dem späten "Bitte lächeln", dem frühen Viva TV, den (vor allem technisch) irrsten Instrumentalisten-Videos und Kochshows mit Anthony Bourdain. Auf Crack. Und dann mit Smartphone-Filtern wieder aufgehübscht. Es macht - anekdotische Evidenz, inzwischen haben es Untersuchungen aber auch bestätigt - extrem süchtig. Außerdem gibt es eklatante Bedenken beim Datenschutz. Enorm Spaß macht es natürlich auch.

Begegnet sind Reichel und Tkiktok einander, weil die User in China "Aloha Heja He" gerade sehr gern für ihre Videos benutzen - auch für #dontlaughchallenges, aber auch für allerlei anderes. Für den wahrscheinlichsten Grund muss man etwa ein Jahr zurückgehen.

Auftritt "Wellerman". Ende Dezember 2020 stimmte Nathan Evans, ein damals 26-jähriger Briefträger aus Schottland, das aus dem 19. Jahrhundert stammende Sea Shanty an. Inhalt: ebenfalls das beschwerliche Seemannsleben. Immer Walkadaver zerlegen. Immer warten auf ein Schiff des Unternehmens Wells Brothers, das "Zucker und Tee und Rum" bringt. Eher keine süße Kleine. 6,2 Milliarden Mal wurde seither Content mit dem Hashtag #seashanty angesehen. So was geht nicht spurlos an der echten Welt vorüber.

Genau genommen hat kaum ein Medium die Pop-Charts des Jahres 2021 so sehr beeinflusst wie Tiktok. Siehe Achim Reichel. Siehe aber auch die deutschen Apple-Charts: Kein Song wurde hierzulande auf dem Musikportal in diesem Jahr mehr gestreamt als der wirklich sagenhaft uninspirierte Dance-Remix, den 220 Kid und das Produzenten-Duo Billen Ted aus Evans' "Wellerman"-Version gemacht haben. Platz eins der globalen Apple-Shazam-Charts: "Astronaut In The Ocean" von Masked Wolf. Platz fünf: "Beggin" der italienischen Band Måneskin. Beides Songs, die unter allerlei Videos auf dem Portal gelegt wurden.

Ziemlich grandiose, neue Sachen findet man natürlich auch. Man sehe und höre etwa das kalifornische Freestyle-Rap-Wunder Harry Mack. Oder den Comedian Tom Cardy, der dort entweder die genialsten Volltrottel-Songs oder die trotteligsten Song-Genialitäten ausstellt. Der Gitarrist Marcin Patrzałek (ursprünglich kennt man den aus "America's Got Talent") veröffentlicht technisch absolut verrückte Solo-Gitarrensachen. Zuletzt etwa eine ganz famose Version von "Fly Me To The Moon".

(Foto: N/A)

Der Rapper Snoop Dogg singt auf Tiktok aktuell unter anderem Weihnachtslieder. So was in der Art jedenfalls. Außerdem hat er gerade ein, ja was eigentlich veröffentlicht? Ein Album? Ein Mixtape? Eine Playlist? "Snoop Dogg Presents Algorithm" (Universal Music) ist jedenfalls eine Songsammlung: Neues vom Westcoast-Rapper und ein paar Features. Dazu aber auch Material von geschätzten Künstlern, die er wie ein guter Host kuratiert und moderiert: Redman & Methodman vom Wu Tang Clan sind dabei, Eric Bellinger, Usher, die Sängerinnen Malaya, Jane Handcock. Das Niveau schwankt bei 40 Songs erwartbar. Im Mittel wiegt einen das Album aber mit stabil sanftem Gewolke Richtung Jahresausgang.

(Foto: N/A)

Und damit zum Schluss noch zur perfekten Symbiose aus Tiktok und Pop: dem Youtube-Heimwerker Schrägstrich Designer Schrägstrich Textilproduzent Schrägstrich Singer-Songwriter Fynn Kliemann. Der veröffentlicht am Freitag eine Art Best-of-Album - allerdings in smart: "Nur" (BMG) enthält Remixe und Pianoversionen der Songs, die ihm selbst von seinen bisherigen Alben am besten gefallen haben. Auch smart: Es erscheint nur digital und auf streng limitiertem Vinyl. Alles ist aus durchweg recyclebarem Material. Bisschen so klingt es auch - aber in ganz gut.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusRapperin Shirin David
:"Ich kenne einfach zu viele Frauen, denen die schlimmsten Dinge passiert sind"

Shirin David über Missbrauch im Rap und in der Gesellschaft, ihre Erfahrungen mit Armut, Opernbesuche und die Frage, warum man einen Eistee "Wet Peach" nennt.

Interview von Jakob Biazza

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: