Sprachlabor:Von den Ahnen

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(Foto: Luis Murschetz (Illustration))

Sigmund Freud über unfertige Menschen, von Goethe und dem Göttlichen - und von 16 Millionen Männern, die angeblich in direkter Linie von dem mongolischen Eroberer Dschingis Khan abstammen sollen.

Von Hermann Unterstöger

FÜR "UNKORRIGIERTER" ALS ÜBLICH hält Leser Dr. S. den Artikel über einen dubiosen Krebstest an der Universität Heidelberg. Als ersten Grund dafür nennt er den Komparativ unfertiger, an dessen Statt er die Umschreibung "weniger weit fortgeschritten" vorgezogen hätte. Unmöglich ist diese Steigerungsform indes nicht. Um nur einen Beleg dafür zu nennen, so schreibt Sigmund Freud einmal, der Mensch werde unfertiger als die meisten Tiere in die Welt geschickt (in "Hemmung, Symptom und Angst"). Zweiter Grund ist die Behauptung, Heidelberg sei die älteste deutsche Universität. "Selbst wenn man Prag und Wien nicht zählt", sagt Dr. S., "ist Erfurt (1379) vor Heidelberg (1386) privilegiert worden." Damit zum dritten Grund, nämlich zu der Formulierung vom "schmallippigen Schreiben des Rektors". Unabhängig davon, wie Rektor Bernhard Eitel beim Verfassen des Schreibens die Lippen formte, haben wir es mit der rhetorischen Figur der Enallage zu tun, bei der das Adjektiv um der Wirkung willen einem anderen als dem semantisch passenden Substantiv zugeordnet wird. Präzedenzfall ist der notorische vierstöckige Hausbesitzer, doch hat auch Goethe das Stilmittel benutzt. Das Glück, schreibt er in seinem Gedicht "Das Göttliche", fasse "bald des Knaben / lockige Unschuld, / bald auch den kahlen / schuldigen Scheitel."

NIEMAND IST FÜR SEINE AHNEN verantwortlich, trotzdem mag es belastend sein, Dschingis Khan unter ihnen zu wissen. Laut einer bei uns wiedergegebenen Rechnung des American Journal of Human Genetics gibt es 16 Millionen Männer, die in direkter Linie von Dschingis Khan abstammen, ein Faktum, das Leserin H. zu der Frage animiert, ob es auch indirekte Nachkommen gibt und was darunter, falls ja, zu verstehen wäre. Dies zu definieren würde ins Unendliche führen, doch wäre mit Dschingis Khan seitenverwandt, wer von dessen Brüdern Hachiun, Qasar, Belgutei, Temüge oder Behter respektive von deren Schwester Temulin abstammte.

© SZ vom 22.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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