Sprachlabor:Vom Stagnieren und Wortungetümen

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(Foto: Luis Murschetz (Illustration))

Statistiker reden zuweilen gestelzt, und dann stagniert mal das Wachstum, mal was anderes, oft passt die Wortwahl gar nicht. Warum das Adverb ,,nichtsdestotrotz" überlebt, versteht der Autor nicht. Trotzdem analysiert er weiter.

Von Hermann Unterstöger

MANCHE WÖRTER haben einen derart strengen Geruch, dass sie zur neutralen Verwendung nur bedingt taugen. Unser Leser Dr. F. findet, dass stagnieren in diese Kategorie gehört, und er macht das an folgender Unterzeile fest: "Der sexuelle Missbrauch von Kindern stagniert seit Jahren." Was gemeint ist, unterliegt keinem Zweifel. Es ist ein positiver Befund, doch wer den Satz böswillig auffassen wollte, könnte so etwas wie Bedauern darüber heraushören, dass es mit dem Missbrauch nicht aufwärtsgehen mag. Für den freieren Gebrauch von stagnieren steht eine Stelle aus Bismarcks "Gedanken und Erinnerungen". Er schreibt dort, sein Verhalten gegen fremde Regierungen sei von preußenbezogenen Überlegungen geleitet gewesen, nicht jedoch von "stagnierenden Antipathien". Das ist nah am lateinischen stagnum (stehendes Gewässer, Tümpel); heute würde man vielleicht "Pool von Antipathien" sagen.

DASS DER APOSTROPH bei "Die Freiheit nehm' ich dir" nichts verloren hat, darin ist Leserin B. zuzustimmen, wenngleich es kein Verbrechen wäre, ihn zu setzen. Wie aber steht es um den Apostroph in "seit Plinius' des Jüngeren Zeiten", den Frau B. ebenfalls für falsch hält? Bei dem Genitiv Plinius ' Schriften gäbe es keinen Zweifel, doch bedeutet die Apposition des Jüngeren nicht, dass damit dem Genitiv Genüge getan ist und Plinius nun quasi nackt dastehen muss. Man sagt schließlich auch das Grab Karls des Großen und nicht das Grab Karl des Großen.

DER KUMMERKASTEN gehört heute Leser Dr. B., aus dessen Brief Trauer rinnt wie schwerer Honig ... - äh, falsche Baustelle. Herr B. sieht keine Hoffnung, dass das Wort nichtsdestotrotz , dessen quälende Scherzhaftigkeit offenbar nicht mehr wahrgenommen wird, aus dem Verkehr geht. Leser Dr. H. tritt ihm zur Seite. Er wundert sich, dass, obwohl trotzdem verfügbar ist, nichtsdestoweniger das steindumme nichtsdestotrotz verwendet wird. Kann den Herren geholfen werden? Wohl kaum.

© SZ vom 06.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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