Sprachlabor:Über epische Stimmen und Prokrastination

Lesezeit: 1 min

(Foto: Luis Murschetz (Illustration))

Von Hermann Unterstöger

ÜBER DAS DRITTE WERK der Barmherzigkeit, das Bekleiden der Nackten, arbeitet sich Leser Dr. W. an sein Anliegen heran: an die Frage, ob man einen Lehrstuhl bekleiden oder leiten kann. Von Haus aus war der Lehrstuhl ja zunächst ein Möbel, auf dem der - und nur der - saß, der zu lehren befugt war. So gesehen wäre innehaben wahrscheinlich das, was man mit einem Lehrstuhl macht, wohingegen besetzen nach widerrechtlicher Aneignung klingt und nur erlaubt ist, wenn die Universität es tut. Das Leiten eines Lehrstuhls stört Herrn W. besonders, doch ist dagegen insofern nichts einzuwenden, als mit Lehrstuhl gemeinhin alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lehrstuhlinhabers gemeint sind. Bei dem Verb bekleiden merkt Grimm an: ein Amt usw. "mit seiner Person, mit sich ausfüllen", was für einen Lehrstuhl die heitere Vorstellung weckt, in dessen Innerem sitze, wie seinerzeit in Wolfgang von Kempelens "Schachtürken", ein Lehrender.

BEI INTERVIEWS ist der Gesprächspartner Herr seiner Wörter und Fremdwörter, ein Prinzip, in dessen Schatten kürzlich intrusiv zum zweiten Mal ins Blatt gelangte (zum ersten Mal war ihm das im Februar 2012 gelungen). Leser Dr. K. findet, man hätte das Wort durch aufdringlich ersetzen können, ohne den Interviewten in seinen Rechten zu schmälern. Ob prokrastinieren ebenso zügig durch aufschieben zu ersetzen wäre, fragt sich: Dieses Verb hat, so gespreizt es sich anhört, eine gewisse Verbreitung gefunden.

ZIEMLICH INTRUSIV macht sich in jüngerer Zeit auch das Adjektiv episch breit. Konventionell verwendet, steht es für etwas, das breit erzählend, oft auch in lähmender Ausführlichkeit, also ellenlang, vorgetragen wird. Was aber bedeutet es, wenn es von einem Song heißt, er biete "viel Raum für Trickys episch zerlumpte Stimme"? Unsere Leserin Dr. B. wunderte sich, dass der Postkarte kürzlich etwas "aufgekratzt Episches" attestiert wurde, wo doch deren Stärke eher im Bündigen liegt - es sei nun aufgekratzt oder nicht.

© SZ vom 06.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: