Sprachlabor:Neu denken

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(Foto: Luis Murschetz (Illustration))

SZ-Leser merken schnell, wenn sich Slogans aus Politik- und Wirtschaftsleben in Texten niederschlagen. ,,Mehr als bestätigt" enttarnen sie ebenso als Floskel wie ,,Das muss man neu denken".

Von Hermann Unterstöger

WENN DIE FIRMA GOODYEAR behauptet, ihre Autoreifen seien "mehr als nur Gummi", kann damit auch der Laie etwas anfangen, selbst wenn er von Karkasse, Drahtkern, Humpstreifen und ähnlichen Reifenelementen keine Ahnung hat; notfalls denkt er an die Magie, die von den berüchtigten heißen Reifen ausgeht. Dieser Ausweg ist unserem Leser W. verwehrt. Als er las, dass Angela Merkel zur Libyenkonferenz "Vertreter aus mehr als zehn Ländern" versammelt habe, fragte er sich und uns, ob man diese Länder - es waren zwölf - anhand des Gruppenfotos mit ihren Vertretern nicht hätte abzählen können. Herrn W.s Wunsch, es genau zu wissen, erstreckt sich auch auf die beliebte Floskel, etwas habe sich "mehr als bestätigt". Seiner Ansicht nach ist die Bestätigung schon eine runde Sache, und wer von mehr munkelt, müsse darüber auch Auskunft geben.

ALS VON TOKIO gesagt wurde, es verpasse die Chance, "den urbanen Raum neu zu denken", fragte Leser B., ob er die Sprache der SZ ebenfalls "neu denken" müsse. Er knüpfte damit bewusst oder unbewusst an Leserbriefe an, in denen über die transitive Verwendung des Verbums erinnern geklagt wird. Die Form ich erinnere das wird unter die unauffälligeren Anglizismen gerechnet, obwohl sie dem Deutschen nicht völlig fremd ist: "Ich will's nur erinnern", sagt der Wirt in Lessings "Minna von Barnhelm". Neueren Datums und für Freunde des überkommenen Sprachgebrauchs ähnlich ärgerlich ist die Marotte, etwas neu zu denken. Sie ist im Deutschen das, was beim Kaffeetrinken der zierlich abgespreizte kleine Finger ist, und hat sich, wie das bei Marotten und für Marotten empfänglichen Schreibern zu gehen pflegt, bodendeckend weiterverbreitet. Was wird nicht alles neu gedacht: die Arbeitswelt, Unternehmensstrategien, Beethoven, die Nachhaltigkeit, die Mobilität sowie das Bauen, und was nun gar die Straubinger FDP angeht, so dachte sie sich kampagnenmäßig neu und startete mit dem Motto "Straubing. Neu. Denken." in den Wahlkampf.

© SZ vom 08.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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