Sprachlabor:Hut ab vorm Sprachmut

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(Foto: Luis Murschetz (Illustration))

Das Gendern ist seit geraumer Zeit überall präsent, doch es gibt Redewendungen, bei denen der "Otto-Normal-Münchner" stutzt.

Von Hermann Unterstöger

MEHR BERICHTE über "reguläre Künstler" wünscht sich Leser S. Das liegt an den vielen "Ausnahme"-Künstlern, auf die er gestoßen ist. Unser Archiv bietet dazu etliche Namen, wobei die "Ausnahmepianisten" in der Überzahl sind: Aris Alexander Blettenberg, Nuron Mukumi, Igor Levit, Alexander Schimpf und Esbjörn Svensson. Unter den "Ausnahme-Schauspielerinnen" wurde Stefanie Reinsperger als generell "wütend" und speziell "spielwütig" herausgehoben. Was die Kölnische Rundschau und der Bergsträßer Anzeiger uns voraushaben, sind die "Ausnahmevibrafonisten" Wolfgang Lackerschmid und Dizzy Krisch. Dafür hatten wir mal den "Ausnahme-Vibrafonisten" Wolfgang Schlüter, aber das ist jetzt auch schon wieder zwanzig Jahre her.

AUCH BEIM GENDERN ist die Praxis der beste Lehrmeister, wobei es die Grenzfälle sind, die uns weiterbringen. Dass zum Beispiel dem "Otto-Normal-Münchner" die "Otto-Normal-Münchnerin" zur Seite gestellt wurde, wertete unser Leser B. als "sprachmutigen Ansatz", wobei er nicht verschwieg, dass ihm die Übernahme des Vornamens Otto wie eine "unzulässige sexuelle Aneignung" vorkomme. In das Fach Sprachmut gehört auch die neuerdings um sich greifende Wendung, etwas sei "nicht jedermanns, jederfraus Sache". Ob dieser mutige Genitiv Fraus Anliegen wirklich weiterhilft?

BEI RILKE legt Jesus seiner Mutter "seine nächstens ewige Hand" an die Schulter. Das ist, jenseits des Religiösen, eine feine Trennung der Zeitebenen: ewig ja, aber erst demnächst. Etwas von dieser Präzision hätte sich Leser H. gewünscht, als er las, dass Frankreichs "ehemaliger Premierminister" Philippe 2019 an Senegals Präsident Sall ein historisch bedeutsames Schwert übergeben hatte. 2019 war Philippe aber, so Herr H., nicht ehemalig, sondern allenfalls, nämlich aus heutiger Sicht, damalig. Zur Freude von Leser N. gab es bei uns aber auch einen "demnächst ehemaligen Ministerpräsidenten".

© SZ vom 28.05.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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