Sprachlabor:Ewiger Zauber

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(Foto: N/A)

Sprachforscher Hermann Unterstöger hat diesmal über fest zusammengesetzte Verben, Bedeutungsdifferenzierung, ziemlich unziemliche Klischees und in Brentanos Rheinmärchen geforscht. Markus Söder kommt auch noch vor.

Von Hermann Unterstöger

DER DICHTER Adolf Endler "übersiedelte 1955 in den Osten". So unsere Formulierung, und Leser R. sah sich vor die Frage gestellt, ob er sich noch "auf dem aktuellen Stand der Sprachevolution" befinde. Seines Wissens sei übersiedeln eines der trennbaren oder, genauer gesagt, unfest zusammengesetzten Verben, deren nichtverbaler Teil, hier also über, in der praktischen Anwendung des Verbs abgekoppelt und ans Satzende gerückt wird: aufwachen, aber: Er wachte zu spät auf. Bei fest zusammengesetzten Verben führt eine Trennung nach diesem Muster ins Unsinnige oder peinigend Scherzhafte: Er verstand alles miss. Was übersiedeln angeht, so kann es als trennbares oder untrennbares Verb gesehen werden; laut Grimms Wörterbuch geschieht dies "ohne Bedeutungsdifferenzierung". Mithin spricht nichts gegen er übersiedelte, noch weniger freilich gegen er siedelte über.

ALS "ZIEMLICH UNZIEMLICH" prangert Leser S. die Formulierung "ein ziemliches Klischee" an. Sein Argument: Hier wird ein Adverb zum Adjektiv gemacht. Tatsächlich hört sich das ziemlich umgangssprachlich an; "ein ziemlich banales/billiges/verbrauchtes Klischee" hätte den Sachverhalt wohl präziser beschrieben. Andererseits ist ziemlich auch ein Adjektiv, von dessen einstiger Bedeutungsfülle sich nicht allzu viel hat erhalten können. Ein stattliches Gehalt nannte man früher gern "ein ziemliches Geld", und wenn es ausblieb, hatte man bald "eine ziemliche Schuldenlast" zu tragen. In einem von Brentanos Rheinmärchen sieht der Müller Radlauf, wie sich eine Biene auf den Mund der ohnmächtigen Prinzessin Ameleya setzen will. In seiner Angst, die Biene könnte zustechen, möchte er diese verjagen, gibt aber stattdessen Ameleya "eine ziemliche Ohrfeige", woraufhin die Schöne prompt erwacht.

O EWIGER ZAUBER des Werdens und Wachsens: "Nürnberg ist die Stadt, in der Söder seine Jugend schlafend unter einem Strauß-Poster verbrachte." Unser Leser Dr. S. dazu: "Wer hat ihn wachgeküsst?"

© SZ vom 29.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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