Pazifismus:Wichtiger Denkanstoß für den Frieden oder Irrtum?

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SZ-Zeichnung: Michael Holtschulte (Foto: N/A)

Besorgt sind angesichts des Ukraine-Kriegs wohl die meisten. Doch was ist die richtige Antwort auf den Angriff? Was der nächste Schritt? Und fehlt der Regierung wirklich ein Ministerium?

"Lob des Pazifismus" vom 29. September, "Die Lebenden und die Toten" vom 26. September und "Hört auf Erdogan und lernt" vom 23. September:

Waffenstillstand als erster Schritt

Man muss in diesen erhitzten Zeiten für Sätze wie "Vielleicht sollten die Staatmänner auch mal an die Möglichkeit eines Verhandlungsfriedens denken", dankbar sein. Euphorie angesichts der ukrainischen Geländegewinne und Triumphalismus angesichts der russischen Teilmobilmachung als Symptom der Schwäche sind völlig unangebracht. Alles deutet auf eine Eskalation des Krieges hin. Es wäre ein überzeugendes Qualitätsmerkmal der demokratisch verfassten Staaten des Westens, wenn sie aus dem Gefängnis rein militärischer Logik ausbrächen und alle Möglichkeiten und Wege nutzten für die Herbeiführung eines Waffenstillstandes im ersten Schritt. Es ist kein gutes Zeichen, wenn in Deutschland Politiker, Journalisten, Talkmaster und Talkmasterinnen und bis dato unbekannte Expertinnen und Experten ausschließlich auf die militärische Karte setzen. Warum? Kaum wird der zahlreichen Toten und des unendlichen Leids gedacht, und zwar auf beiden Seiten. Für die Friedensbemühungen müssen wir nicht Wladimir Putin um Erlaubnis fragen, aber auch nicht Wolodimir Selenskij. Es ist die vornehmste Aufgabe des freien Westens.

Alf Hase, Esens

Steinzeitreflex

Ob ich als Pazifist schubladisiert werde, weiß ich nicht, aber als "geprüfter" Kriegsdienstverweigerer bin ich bestürzt, dass sich in den letzten 40 Jahren zum Thema Friedensarbeit zu wenig bewegt hat. In der Steinzeit mag der menschliche Erstreflex des Zuschlagens stimmig gewesen sein, aber in der Jetztzeit formulieren wir einen entwickelteren Anspruch an die Vernunft- und Moralfähigkeit. Die Selbstgewissheit zum militärischen Waffeneinsatz, das Erstaunen über das Handeln Putins, die wirtschaftliche Nutzensicht auf den Waffenhandel - vergleichbar stolpern wir in die Klimaänderungen und Wirtschaftsdynamiken. In dem Artikel sind noch nicht mal die psychosozialen Langzeitfolgen für die nächsten Generationen angetippt - die seelischen Wirkungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges, der Zeit des sogenannten Dritten Reiches sind ja in unserer deutschen Gesellschaft unterschwellig noch wirksam. Pazifismus wird zumeist direkt auf der Verliererseite der Naiven verortet, aber das muss nicht bedeuten, dass die Sichten falsch sind. Es gibt viel zu tun.

Jens Thomas Hilke, Gröbenzell

Grundsätzlicher Irrtum

Diesen Beitrag lobe ich, obwohl ich in Bezug auf den Ukraine-Krieg und auch in grundsätzlicher Betrachtung zu anderen Schlüssen komme. Die Stärke des Artikels liegt darin, uns und der Politik vor Augen zu halten, was zur Vermeidung von Kriegen (Vorsorge) und nach Ausbruch eines solchen abzuwägen und zu beachten ist. Es braucht immer die mahnende Stimme, die fragt, ob oder wie Opfer (Menschenleben) vermieden werden können. Ein elementares Kriterium offener, nicht totalitärer Gesellschaften, ist, wenn die Stimme des Pazifismus sich frei zeigen kann und vor allem auch beachtet wird. Dennoch bleibt der grundsätzliche Irrtum des Pazifismus als Ideologem, dass er Wehrhaftigkeit, Bewaffnung kategorisch ablehnt. Verbrecherische Gewalt und verbrecherische Angriffskriege können nur durch legitimierte Gewalt, moralisch und rechtlich fundiert, abgewehrt werden. Das gilt prinzipiell, sowohl für das friedliche Leben in den Gesellschaften als auch zwischen Staaten und Nationen.

Gerhard Fließbach, Nürnberg

Unmerkliches Einschläfern

Nele Pollatschek spricht mir aus der Seele. Als heute über 60-Jähriger bin ich mit den Slogans "Frieden schaffen ohne Waffen" (Anfang der 1980er-Jahre wurde ich als Kriegsdienstverweigerer anerkannt) und "Atomkraft nein danke" aufgewachsen. Seit einem halben Jahr musste ich nun in den Schaufenstern meines Büros die ganz alten Buttons wieder rauskramen und sie, in einer gewissen Hilflosigkeit, dort an prominenter Stelle einkleben. Ich fühlte mich wie mit 20. Und natürlich wurde mir mit einem Schlag bewusst, dass sich die Friedensbewegung (wie auch die Klimabewegung) in den letzten 40 Jahren langsam und unmerklich hat einschläfern lassen. Die Reaktionen auf die Plakate gingen tatsächlich von bestätigender Unterstützung bis zu heftigen Anfeindungen. Nach Nele Pollatscheks Artikel darf ich mich also, da ich den Äußerungen standgehalten habe, als wahrer Pazifist fühlen, oder...?

Robert Philipp, Pöcking

Sorge vor dem Dritten Weltkrieg

Jetzt wird es brandgefährlich. Halten wir zunächst die wichtigsten Fakten zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine fest. Erstens: Russland hat im Februar dieses Jahres einen eindeutig völkerrechtswidrigen Krieg gegen den souveränen Staat Ukraine begonnen. Zweitens: Seit Beginn des Krieges hat die Nato ihr "Engagement" in diesem Krieg Schritt für Schritt ausgeweitet - richtiger wäre, von stetig aggressiver und offensiver werdender Aufrüstung zu sprechen -, obwohl die Ukraine weder Nato- noch EU-Mitglied ist. Mit fatalen Wirkungen. Drittens: Die Folgen des Krieges bisher: eine noch unbekannte, aber definitiv sehr große Zahl von ermordeten ukrainischen Bürgern; mehrere Zehntausend tote Soldaten auf beiden Seiten, zu großen Teilen von den jeweils Regierenden beider Staaten "zwangsverpflichtet" - also zum Morden und Ermordet-Werden gezwungen. Großes Leid für die ukrainische Bevölkerung; nicht jedoch für die Regierenden um Selenskij. Inflationäre Preisentwicklung in Europa bei Energie (Heizung, Strom) und Rohstoffen. Hauptbetroffene: der Großteil unserer Bevölkerung sowie kleine beziehungsweise mittelständische Unternehmen. Hauptprofiteure: Energiekonzerne und Rüstungsbetriebe. Folge sind auch Russlands eindeutig völkerrechtswidrige Referenden in den Ostgebieten, die aber fatalerweise Russland die Scheinlegitimation geben, diese Gebiete als Teil ihres Staates zu erklären.

Und jetzt, genau an dieser Stelle, wird es allerhöchste Zeit, die Notbremse zu ziehen. Bisher sind "nur" konventionelle Waffen eingesetzt worden, die aber allein schon Zigtausenden Menschen den Tod gebracht haben. Jetzt aber droht ein Dritter Weltkrieg einschließlich des Einsatzes von Atombomben. Jetzt geht es nicht mehr darum, "recht zu haben", sondern schlicht und einfach darum, eine noch weitaus größere Anzahl an Ermordeten und Jahrzehnte andauerndes Sterben von Millionen Menschen zu verhindern.

Die vergangenen Weltkriege wurden durch Volksverhetzung vorbereitet und durch Lügen begonnen. Fordern wir unsere Regierung und alle anderen Parteien also auf, alles - und damit meine ich wirklich alles - zu tun, um den Krieg sofort zu beenden, statt den Krieg weiter aktiv in die Eskalation zu treiben.

Gerd Kolb, Viernheim

Grautöne fehlen

Leider vermisse ich in der SZ in den Monaten des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, bei aller berechtigten Verurteilung den Versuch, auch die russische Motivation besser zu verstehen. Ich möchte das an der Seite-Drei-Reportage "Die Lebenden und die Toten" verdeutlichen: Ein Ukrainer aus Isjum, der klar auf der Seite der Ukraine steht, berichtet, dass circa 60 Prozent der Einwohner Isjums auf der Seite Russlands stehen. Das, nachdem die Stadt aus westlicher Sicht frevelhaft von Russland überfallen und zerstört wurde. Jeder Journalist und jeder kritische Leser beziehungsweise jede kritische Leserin sollte sich in dem Moment fragen, wie das sein kann. Nichts davon wird jedoch hinterfragt. Stattdessen wird konsequent von allen seriösen Medien von "Pseudoreferenden" gesprochen, um bloß keinen Eindruck von freiwilliger Zustimmung zu einer Vereinigung der östlichen Teile der Ukraine mit Russland aufkommen zu lassen.

Selbst mir, der in allen Diskussionen bisher die Berichterstattung der Medien in Deutschland verteidigt hat, kommt das wie Selbstzensur und Durchhaltejournalismus vor. Der Feind muss mit allen Mitteln als zu hundert Prozent böse gekennzeichnet werden, und es darf keine Grautöne geben. Sehr unbefriedigend und traurig. Sonja Zekri hatte in "Geschenk von Putin" mal ein paar Gedanken zur Diskrepanz zwischen der Berichterstattung und der Bewertung der Leser und Leserinnen geäußert. Danke dafür.

Achim Sommer, Berlin

Guter Denkanstoß

Nele Pollatscheks Artikel empfand ich als eine große Bereicherung im Sinne eines Denk- und Diskussionsanstoßes. Einen Absatz empfand ich allerdings als unter dem Niveau des Gesamtartikels. Er beginnt mit "Staatlich-verankerter Pazifismus hätte erkannt...". Im weiteren Text steht da: "Sie hätten die Abhängigkeit von russischem Gas hinterfragt."

Ich habe im Jahr 2004 für die Stiftung Wissenschaft und Politik eine Studie mit dem Titel "Klimapolitik und Energieversorgungssicherheit - zwei Seiten derselben Medaille" geschrieben. Darin habe ich auf die zu unterstützenden, konkreten Alternativen bei der Versorgung mit Erdgas aufmerksam gemacht und geschrieben: "Daran fehlt es bisher insbesondere aus Rücksichtnahme auf Russland, das sich eine monopolähnliche Position für die Versorgung Europas mit Erdgas aufbaut. Wenn aber kein Wettbewerb in der Erdgasversorgung Europas stattfindet, ist die Versorgung gefährdet."

Von keiner Seite habe ich hierfür mehr Kritik bekommen als von der pazifistischen Seite, die argumentierte, dass die gegenseitige Abhängigkeit (Russland braucht Geld, Europa braucht Gas) die beste Friedenssicherung sei. Insofern erscheint mir der praktische Nutzen dieses Gegengewichts zur Ertüchtigung der Bundeswehr eingeschränkt. Aber Nele Pollatscheks Gedanken sind trotzdem Grundlage einer überfälligen Diskussion.

Dr. Friedemann Müller, München

Pazifismusministerium fehlt

Nele Pollatschek for President - oder wenigstens for Pazifismusminister. Sie kann nicht nur so gescheit übers Gendern reden, dass man im Ergebnis nur noch englischsprachig sein möchte, nein, sie kann auch Pazifismus. Ihr "Lob des Pazifismus"-Artikel sagt alles Wichtige zum Thema, glasklar, und löst mit Leichtigkeit all die Doppelmoralitäten um den "wehrhaften Pazifismus" auf. Ihr Fazit, und jeder hat es eigentlich gewusst: Es gibt kein Pazifismusministerium. Für den Krieg wird reichlich getan, für den Frieden zu wenig. Die große Politik nimmt die Verhinderung von Krieg nicht ernst genug. Die Beispiele sind erdrückend. Ich sage es noch mal: Nele Pollatschek for Pazifismusminister!

Georg Gerwing, Bielefeld

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